Kirchheim
Kampf für eine bessere medizinische Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung

Medizin Mitglieder der Lebenshilfe Kirchheim machen sich für eine bessere Versorgung der Menschen mit geistiger Behinderung im Landkreis Esslingen stark. Noch immer ohne Erfolg – Betroffene berichten. Von Julia Nemetschek-Renz

Da ist die Mutter, die ihren Sohn kurzerhand aus der Klinik wieder mit nach Hause nimmt, obwohl er zuhause kollabiert war. EKG und Blutabnehmen lässt ihr Sohn nicht zu, will weglaufen, wehrt sich. „Schnell schnell geht bei ihm nicht,“ erzählt Angelika Münster. „Er braucht unbedingt

 

Meine Tochter kann ja nicht erklären, was sie hat.
Christian Birzele-Unger
Der Vater betont, wie wichtig die Begleitung seiner Tochter beim Arzt ist.
 

Zeit und Menschen, die einfühlsam sind.“ Da ist der Vater, der zu jedem Arzttermin einen Stapel Krankenakten und Berichte mitschleppt und sich in die Klinik immer gleich mit aufnehmen lässt. „Ich muss den komplexen Zusammenhang der Erkrankung liefern, meine Tochter Jana kann ja nicht erklären, was sie hat“, sagt Christian Birzele-Unger.

Da ist die Schwester, die bemerkt, dass ihrer Schwester im Krankenhaus einfach das Mittagessen abgeräumt wurde. „Obwohl sie nichts gegessen hatte. Sie braucht halt Unterstützung“, betont Corinna Maier. „Wann hätte das jemand gemerkt?“ Da ist ein anderer Vater, dessen Sohn beim Arztgespräch ausbüxt. „Es gibt ja keine Betreuung, wenn die Eltern nicht dabei sind,“ erzählt Hansjörg Schreib. Und da ist eine Mutter, die mit ihrem Sohn stundenlang beim Orthopäden im Wartezimmer sitzt, für ein Terminfenster von zehn Minuten. „Da hätte mein Sohn allein noch nicht mal Schuhe und Socken ausgezogen“, erzählt Irmgard Schwend. „Ich sehe da ein unlösbares Problem auf uns zukommen. Ich bin jetzt 70. Wer macht das, wenn ich mal nicht mehr bin?“ Diese Sorge eint alle Angehörigen der Menschen mit einer geistigen Behinderung. Wer geht dann mit zum Arzt, begleitet ins Krankenhaus, kennt die Krankengeschichte, sorgt für die Gesundheit der Menschen mit geistiger Behinderung?

Forderung eines speziellen Zentrums

Seit Jahren fordern die Mitglieder der Lebenshilfe Kirchheim ein MZEB, ein Medizinisches Zentrum für Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Denn vom 18. Lebensjahr an gibt es eine deutliche Versorgungslücke im Landkreis Esslingen. Bis zur Volljährigkeit ist die Versorgung sehr gut über die Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) gewährleistet. Hier arbeiten multiprofessionelle Teams aus Ärztinnen, Therapeuten und Pflegekräften Hand in Hand.

Nach demselben Prinzip sind die MZEB aufgebaut. Dort gelingt der ganzheitliche Blick auf den Menschen und die medizinische Geschichte. Kein Vater müsste mehr Krankenakten schleppen, keine Mutter wäre in Zeitnot. In einem MZEB wäre das Fachpersonal geschult für den Umgang mit Menschen mit Behinderung. Und ist das MZEB an eine Klinik angegliedert, wie in den meisten Fällen, dann können geschulte Fallmanager im Klinikalltag unterstützen und den Blick auf den Menschen mit Behinderung haben.

Der Gesetzgeber hat die Finanzierung der MZEB klar über das Sozialgesetzbuch geregelt, doch der Aufbau kostet Geld und braucht Initiative. Bärbel Kehl-Maurer, Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe Kirchheim; hat mit anderen Trägern der Behinderteneinrichtungen Arbeitsgruppen gegründet, Fachtage mit Politikern organisiert und immer wieder für ein MZEB geworben: „Wir werden mit unseren Forderungen seit Jahren herumgereicht und nicht gehört,“ so Bärbel Kehl-Maurer. Anfang Dezember berichtete die kommunale Gesundheitskonferenz dann im Sozialausschuss des Kreistages zum Punkt MZEB: „Aufgrund schwieriger wirtschaftlicher und personalbedingter Gründe ist die Umsetzung eines eigenständigen Zentrums im Landkreis Esslingen bis auf Weiteres unrealistisch.“

Die Angehörigen werden älter

Doch wie geht es weiter im Landkreis – ohne MZEB? Die Angehörigen werden älter, sind selbst pflegebedürftig oder sterben. Hansjörg Schreib sagt, er sei jetzt 70, hoffentlich blieben ihm noch zehn Jahre, in denen er seinen Sohn begleiten kann. Irmgard Schwend hat schlaflose Nächte, weil sie das unlösbare Problem auf sich zurasen sieht. „Wir müssen richtig alt werden, 100, sag ich zu meinem Mann.“

Der Vater Christian Birzele-Unger sagt: „Stellen Sie sich doch mal vor, ich würde chinesisch sprechen, komische Bewegungen machen und sie dann auch noch anfassen wollen.“ Genauso gehe es vielen Menschen mit einer geistigen Behinderung im Klinikalltag. „Da ist doch klar, dass sie Angst haben und sich verweigern.“ Sei dann keine Bezugsperson da, die die Geschichte des Menschen kenne und kommuniziere, würden doch die medizinischen Entscheidungen komplett über den Kopf hinweg getroffen. „Das steht im krassen Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Menschen mit einer geistigen Behinderung“, so Christian Birzele-Unger. Davon abgesehen sei so natürlich auch nicht die optimale medizinische Versorgung möglich.

„Einzelne Familien im Landkreis Esslingen nutzen die Option der Komplexleistung bei entsprechender Überweisung in die MZEB in Reutlingen oder Stuttgart. Mit einer Sprechstunde beziehungsweise Zweigpraxis könnte dieses Angebot auf den Landkreis Esslingen ausgeweitet werden“, teilen Pressesprecherin Andrea Wangner und Eike Weber, kommunaler Beauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderung auf Anfrage mit. „Die Arbeitsgruppe hat der Gesundheitskonferenz empfohlen, mit den MZEB Reutlingen und Stuttgart Gespräche aufzunehmen,“ sagen Andrea Wangner und Eike Weber gemeinschaftlich.

Wie geht es ohne MZEB im Landkreis Esslingen weiter?

Deutschland hat sich mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, eine ortsnahe, gesundheitliche Versorgung in derselben Bandbreite und Qualität zu garantieren wie für Menschen ohne Behinderung. Damit soll verhindert werden, dass Menschen mit geistigen Behinderungen in der medizinischen Versorgung diskriminiert werden. Simone Fischer, Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen sagt dazu: „Zusätzlich sollen sie eine besondere medizinische Versorgung erhalten, wenn das wegen ihrer Behinderung nötig ist. Für Menschen mit komplexer Behinderung ist es wichtig, dass die MZEB eine verlässliche Versorgung bieten.“ Bundesweit gibt es mehr als 50 MZEB, sechs in Baden-Württemberg.
Das Landratsamt Esslingen zur Frage der medizinischen Versorgung: „Über eine mit den Medius-Kliniken entwickelte Checkliste sollen künftig fallbezogene Informationen dokumentiert werden. Zudem sei zum Beispiel im Klinikum Esslingen eine verstärkte Qualifizierung des Klinikpersonals durch Schulungs- und Fortbildungsangebote zum Umgang mit Menschen mit Behinderung im Krankenhaus vorgesehen, so die Pressesprecherin des Landratsamts, Andrea Wangner, und Eike Weber, kommunaler Beauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderung. Die Gesamtthematik der medizinischen Versorgung von Menschen mit Behinderung werde inzwischen weiter bearbeitet, konkrete Ergebnisse lägen jedoch noch nicht vor, erklären Andrea Wangner und Eike Weber. jnr