Kirchheim

Kein Muezzin – kein Glockenläuten

Kirche Wenn Christen islamische Symbole diskriminieren, sägen sie an ihrem eigenen Ast, sagt Dr. Ellen Ueberschär in der Kirchheimer Martinskirche. Von Peter Dietrich

Dr. Ellen Ueberschär, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, spricht in der Martinskirche zum Thema "Kirche
Dr. Ellen Ueberschär, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, spricht in der Martinskirche zum Thema "Kirche und Staat - alles in bester Verfassung?"

Glaubens-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit gehören ins Grundgesetz, da waren sich dessen Mütter und Väter einig. Doch die Stellung der Kirchen darin festzulegen wurde 1948 mit einer Stimme Mehrheit abgelegt. Stattdessen wurden die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung von 1919 ins Grundgesetz aufgenommen, sie gelten bis heute.

Bei ihrem Vortrag in der Martinskirche spricht Dr. Ellen Ueberschär über das deutsche Verhältnis von Kirche und Staat – und wie Kirchen mit ihrer eigenen Religion, und damit auch die der Anderen umgehen sollten. Seit 2006 ist Ueberschär Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags (DEKT). Geboren wurde sie in Ost-Berlin und erlebte dort das Christsein im Sozialismus.

Viele religionspolitische Debatten wurden hoch emotional geführt – von der Abschaffung der Staatsleistungen über die Islamkonferenz bis zur Beschneidung. Die Parteien seien sich erstaunlich uneinig, es gebe überraschende Konstellationen, sagt Ueberschär: „Die FDP fordert seit langem die Abschaffung der Kirchensteuer, das steht auch im Wahlprogramm der Linken. Einige wollen vor allem das Streikrecht in Diakonie und Caritas einführen, andere das gesamte kirchliche Arbeitsrecht abschaffen.“ Auch Parteien seien auf Engagierte angewiesen. „Selbst die, die eine zu große Staatsnähe der Kirchen beklagen, leben von aktiven Mitgliedern, die oft in christlichen Jugendgruppen demokratische Grundfertigkeiten gelernt haben.“ Politik müsse in der Bürgergesellschaft und im Parlament gemacht werden, meint Ueberschär. Und Christen sollen nicht nur denen das Feld überlassen, die einfach alles abschaffen wollen, was historisch in Deutschland gewachsen ist.

Ein Blick in die Historie: Luthers „Landesherrliche Kirchenregiment“ hielt als Provisorium etwa 400 Jahre, die große Zäsur kam erst 1918. „Der politische Kampf ging zunächst um Staatsleistungen und Kirchensteuer. In Preußen ging es um die Konfessionsschulen und den Religionsunterricht.“ Das in der Bundesrepublik gepflegte Modell der kooperativen Trennung zwischen Staat und Kirche, so Ueberschär, sei „Gegenmodell zur nationalsozialistischen und marxistischen Religionspolitik“. Die symbolträchtige Entwürdigung von Kirchen verstärke aktuell das Bewusstsein der postchristlichen Gesellschaft. Aber: Dem Satz ‚Ich bin überzeugt, dass Religionen eher schädlich sind‘ stimmten 2013 auch in Ostdeutschland nur 20 Prozent zu, im Westen 15 Prozent.

Die Kirchen hätten nie so gute Bedingungen gehabt wie im säkularen Staat: Die Trennung von Staat und Kirche fördere die Arbeit religiöser Einrichtungen, es gebe Bildungsurlaub für Kirchentagsfahrer und das Gemeindefest auf dem Marktplatz. Zur freiheitlichen Gesellschaft gehöre auch die negative Religionsfreiheit, also die Möglichkeit, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören oder sie zu wechseln. Doch um die Verknüpfung von negativer und positiver Religionsfreiheit anzuerkennen, hätten die Kirchen laut Ueberschär lange gebraucht.

Vorrangige Aufgabe der Kirchen sei jetzt nicht, ihre institutionellen Eigeninteressen durchzusetzen, sondern dafür zu sorgen, dass die Säkularisierung nicht „entgleise“. Sie sollten als biblischer „Sauerteig“ solidarisches Verhalten offensiv fördern und fordern. Ueberschär ist gegen den freiwilligen Rückzug, dem die Ordnung im eigenen Herzen wichtiger ist, als dem sozial- und gesellschaftskritischen Vorbild Jesu zu folgen.

Die Kirchen, riet Ueberschär, sollten sich auf keinen Fall an der Diskriminierung der religiösen Symbole des Islam beteiligen, sonst sägten sie am eigenen Ast: kein Muezzin – kein Glockenläuten, kein Kopftuch – keine Schwesterntracht und keine Kruzifixe in der Schule. „Die Pointe des Grundgesetzes ist gerade die Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen.“