Kirchheim

Kirchheim wandelt auf dem „Pfad der Demokratie“

Kriegsende Eine mobile Ausstellung in Kirchheims Innenstadt erinnert vom 10. November bis zum 19. Januar an die Revolution vor hundert Jahren. Von Andreas Volz

Die Kriegerdenkmäler erinnern an die militärischen Opfer des Ersten Weltkriegs - aber auch an die 2¿000 Soldaten, die in Kirchhe
Die Kriegerdenkmäler erinnern an die militärischen Opfer des Ersten Weltkriegs - aber auch an die 2¿000 Soldaten, die in Kirchheim zu demobilisieren waren.Foto: Carsten Riedl

Revolution ist etwas, das weit weg stattfindet, räumlich und zeitlich. In Frankreich etwa, 1789. In Russland, 1917, gleich zwei Mal. Auf Kuba, 1959. Das sind sicher die prominentesten Beispiele, die sich am ehesten in den Köpfen verankert haben. Aber in Deutschland? Die friedliche Wende in der DDR 1989 fällt einem da vielleicht ein. Aber auch das war ja vergleichsweise weit weg von Kirchheim.

Kirchheim und Revolution? Da war doch was: 1848/49. Sobald der Name Friedrich Tritschler fällt, geht dem einen oder anderen lokalhistorisch Interessierten vielleicht noch ein Seifensieder auf. Aber auch das ist lange her, und zu einem wirklichen Umsturz hat es ja nicht beigetragen. Die Unzufriedenheit war 1848 in Kirchheim nicht ganz so groß, als dass sich allzu viele Verzweifelte den Desperados angeschlossen hätten.

1918? Da war eben der Erste Weltkrieg zu Ende. Ein Desaster für Deutschland, weil danach das Chaos begann: Versailler Vertrag, ungeliebte Republik, verspottete Demokratie, ein gewählter Reichspräsident als Zielscheibe für öffentliche Häme, dazu noch Inflation, später Weltwirtschaftskrise und damit einhergehend Massenarbeitslosigkeit und Massenverelendung. Und genau diese Masse sollte dann umgarnt werden von der neuen Macht, die Ende Januar 1933 konsequent die Macht ergriff. So in etwa vermitteln es die Geschichtsbücher. Die erste deutsche Demokratie: entstanden aus dem Chaos des verlorenen Weltkriegs und quasi von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil das Chaos nicht zu beherrschen war.

Revolution 1918? Kieler Matrosenaufstand vielleicht, Straßenkämpfe in Berlin, eine kurze rote Räteherrschaft in Bayern - ausgerechnet dort! Aber in Württemberg? Der König musste abdanken, weil es das System eben so verlangte, nicht weil jemals jemand mit dem beliebten Monarchen unzufrieden gewesen wäre. Und wenn sich Dramatisches abgespielt hat, im November 1918 in Württemberg, dann war das eben in Stuttgart. Aber doch nicht im beschaulichen Städtchen Kirchheim. Wie hätten die Kirchheimer überhaupt Kunde von der Revolution erhalten können?

Tatsächlich erst mit einem Tag Verspätung, wie Stadtarchivar Frank Bauer berichtet: „Am 9. November waren die Throne in Stuttgart und Berlin gestürzt. Die Nachricht traf erst einen Tag später in Kirchheim ein. Aber dann gab es auch gleich eine große zentrale Demonstration auf dem Rossmarkt.“ Aus diesem Grund beginnt am Samstag, 10. November, genau hundert Jahre später, in Kirchheim die Ausstellung „Pfad der Demokratie“. Verteilt im ganzen Innenstadtgebiet, sind zehn Stationen zu sehen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der „vergessenen Revolution“ von 1918 befassen.

Phänomene von 1918 und 2018

„Pfad der Demokratie“ heißt das Projekt, weil es Frank Bauer weniger auf den Umsturz und auf das Chaos ankommt, als vielmehr auf das, was daraus entstand: die erste deutsche Demokratie - die besser war als ihr Ruf und die bessere Chancen hatte, als ihr Ende im Januar 1933 vermuten lässt.

Die Ausstellung verknüpft deswegen auch die Ereignisse von 1918 mit Phänomenen, die sich 2018 ganz ähnlich beobachten lassen. Die Pressefreiheit ist eines dieser Themen. „In der preußischen Verfassung stand, dass das Recht auf Pressefreiheit im Kriegszustand einzuschränken sei“, erzählt Frank Bauer. Ab 1914 machte der Staat davon reichlich Gebrauch. Der Vorwurf „Lügenpresse“ wäre im Ersten Weltkrieg also nicht ganz unberechtigt gewesen. Zumindest machte es die Zensur der Presse unmöglich, die volle Wahrheit zu berichten.

Die Schule ist ein weiteres Thema. „Reformpädagogik“ hieß eines der Zauberwörter, das nach dem Ende des Kaiserreichs ganz neue Möglichkeiten verhieß. Es gab Ansätze, mit alten Autoritäten zu brechen und über die Gewalterziehung nachzudenken. Schüler sollten die Demokratie somit auch in ihrem ureigensten Umfeld erfahren.

Diese Idee greift der Stadtarchivar jetzt auf: In Zusammenarbeit mit dem Mehrgenerationenhaus Linde bildet er derzeit Schüler im Alter von 16 bis 18 Jahren aus, die Führungen auf dem „Pfad der Demokratie“ anbieten sollen. Treffpunkt zu den Führungen ist jeweils am Rossmarkt - wo am 10. November 1918 die „Revolution“ in Kirchheim ihren Anfang nahm.

Die zehn Stationen auf dem Kirchheimer „Pfad der Demokratie“

1. Rossmarkt: Thema sind die Massendemonstrationen, die zur Revolution ebenso gehören wie zur Demokratie. Am 10. November 1918 demonstrierten die Kirchheimer auf dem Rossmarkt.

2. Sonne: Thema ist das Jugendwahlrecht: Die DDP hat einst in der alten Sonne ihre Kirchheimer Jugendorganisation gegründet.

3. Schwarzer Adler: Zum Thema „Landwirtschaft und Lebensmittelversorgung“ geht es um die Ernährungslage am Ende des Ersten Weltkriegs. Im Schwarzen Adler trafen sich seinerzeit die Kirchheimer Landwirte.

4. Altes Gemeindehaus: Hier geht es um die Frage, wie es mit Staat und Kirche weitergehen sollte. In der Kirche machte sich Angst vor dem Laizismus breit.

5. Alter Teckbote: Der Ort für das Thema Pressefreiheit erklärt sich von selbst.

6. Kriegerdenkmal: Hier geht es weniger um die toten Soldaten, sondern eher um die überlebenden: Rund 2 000 Soldaten des Reserve-Infanterie-Regiments 248 waren in Kirchheim zu demobilisieren.

7. Tyroler: Zum Thema „Frauenwahlrecht“ gab es vor hundert Jahren mehrere Versammlungen im Tyroler.

8. Goldener Adler: Hier war der wichtigste Kirchheimer Versammlungssaal. Gasthäuser hatten mit ihren Sälen damals die Funktion einer Stadthalle.

9. Stadtbücherei: Am Standort der alten Alleenschule geht es um die Neuorientierung der Pädagogik nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs.

10. Rathaus: Das Rathaus ist seit jeher ein Ort der Demokratie. Ende 1918 tagte auch im Kirchheimer Rathaus ein Arbeiter- und Soldatenrat.   vol