Kirchheim
Kirchheimer Modell ab 6. April?

Lockdown In Gastronomie, Handel und Gewerbe wächst die Verzweiflung, weil jede Perspektive fehlt. Die könnte jetzt ein Weg bieten, den die Stadt Kirchheim nach Ostern beschreiten will. Von Bernd Köble

Was wiegt schwerer als ein Beschwerdebrief? Ginge es nach Michael Attinger, würde der Briefkasten im Bundeskanzleramt in den nächsten Tagen unter gewichtiger Post ächzen. Inhalt: massenweise Schlüssel zu Restaurants und Gaststuben. Die Botschaft dahinter: Macht‘s doch selber. Bei Gastronomen wird dieser Tage nicht nur das Bier sauer. Die Verlängerung des Lockdowns hat zwar keinen überrascht, dass man als Branche zurzeit nicht einmal zur Verhandlungsmasse zählt, macht die ohnehin hoffnungslose Situation jedoch noch trister.

„Wir hatten uns zumindest ein schwaches Signal erhofft,“ gesteht der Kirchheimer Gastronomen-Sprecher Michael Holz. Mehr noch als die Fortdauer des Stillstands fürchten er und seine Kollegen einen Schlingerkurs. „Wenn wir irgendwann öffnen und wieder schließen müssten,“ sagt er. „Das wäre der Horror.“

Die Geduld schwindet. Nicht nur in Gastronomie und Handel, auch in der Bevölkerung. Wärend Reichenbachs Bürgermeister Bernhard Richter dieser Tage schon martialisch Bürgerkriegsgefahren heraufziehen sah, umgeht ein Modegeschäft im badischen Emmendingen gewitzt den Lockdown, indem es zwischen Hemd und Krawatte neuerdings auch Klopapierrollen verkauft.

In Kirchheim klammern sich die Hoffnungen jetzt an den Mann, der seit vergangenem Jahr als oberster Dienstherr im Rathaus sitzt. Pascal Bader hat ein Vorbild, und das heißt Boris Palmer. Der hat geschafft, was es sonst nirgendwo in Deutschland gibt: geöffnete Läden und Kneipenbetrieb. Das Tübinger Modell des grünen OB, das auf flächendeckende Schnelltests setzt, hält der parteilose Bader für einen „intelligenten Weg“, um vom Lockdown wegzukommen. „Der ist letztlich nur eine Krücke, keine Strategie,“ meint Kirchheims Rathauschef. Soll heißen: Was Tübingen schafft, kann hier auch gelingen. Mit drei privaten Partnern und neuen Teststationen in der Innenstadt will Bader auf bis zu 4 000 Schnelltests am Tag kommen (siehe auch Info). Auf diese Weise sollen zunächst Handel und Fitnessstudios, in einem zweiten Schritt dann auch die Gastronomie wieder schrittweise öffnen können. Eine Übergangslösung, das betont auch Bader, aber eine dringend notwendige. „Bis wir mit flächendeckenden Impfungen rechnen können,“ sagt er, „wird es Sommer.“ Die Teststrategie hat für ihn gleich zwei positive Seiten. „Wir filtern die heraus , die symptomfrei infiziert sind und wir schaffen einen Anreiz dafür, sich testen zu lassen.“

Das Kirchheimer Konzept, das auch von lokalen Landespolitikern unterstützt wird, liegt jetzt zur Prüfung im Sozialministerium. Bis zu einer endgültigen Entscheidung will Bader nicht warten. Er strebt an, nach Ende des fünftägigen verschärften Oster-Lockdowns am 6. April das System zu erproben. Das gilt vor allem für die Abwicklung von Personendaten, die anders als in Tübingen vollständig digital erfolgen soll. Alle privaten Partner, die dabei sind, bieten eine eigene Softwarelösung an. Wie man diese bündelt und mit der bundesweit genutzten Luca-App vernetzt, damit sollen sich alle, die im Boot sind, nun beschäftigen. Die privat entwickelte App, die derzeit auch auf die Corona-Warn-App der Bundesregierung abgestimmt wird, übermittelt verschlüsselte Personendaten direkt an die Gesundheitsämter.

Bleibt die Frage, wer das alles bezahlen soll? Eine schnelle Antwort darauf hat auch Bader nicht. Zwar dürfte die Zahl der von Bund und Ländern finanzierten Bürgertests steigen, doch reichen wird das nicht. In Tübingen ist die Stadt in Vorleistung gegangen. Der Rest ist spendenfinanziert. Ähnliches könnte sich Bader auch vorstellen. Den Segen von Gastronomie und Handel hätte er. Den des Gemeinderats wird er sich verdienen müssen. Es wäre eine Investition, so ist er überzeugt, die sich auch mittelfristig rechnet.