Kirchheim
Krise: Warum viele Kinder und Jugendliche psychisch belastet sind

Familie Der Chefarzt der Esslinger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. Gunter Joas, berichtet von stetig steigenden schweren Notfällen. Von Anke Kirsammer

Depressionen, Ess- und Angststörungen – mit derlei „Sorgenkrankheiten“, hat es die Esslinger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) immer häufiger zu tun. „Die Schwere vieler Fälle hat deutlich zugenommen“, sagt Chefarzt Dr. Gunter Joas. „Wir haben eine Zunahme von Notfallvorstellungen, insbesondere auch von immer jüngeren Kindern und Jugendlichen mit lebensverneinenden Gedanken.“

Damit bestätigt er nationale und internationale Untersuchungen. Aus der Trendstudie „Jugend in Deutschland – Winter 2022/23“ geht etwa hervor, dass zehn Prozent der Befragten zwischen 14 und 29 Suizidgedanken haben. Im Mai 2022 waren es noch sieben Prozent. „Das bedeutet allerdings nicht, dass die Kinder und Jugendlichen sich wirklich umbringen wollen“, betont Gunter Joas. Jedoch hätten sich psychische Sorgen bei vielen verfestigt.

 

Psychische Probleme schlagen nach einer Ausnahmesituation oft erst später durch.
Dr. Gunter Joas
Viele Fälle haben gemäß dem Chefarzt noch mit der Pandemie zu tun.

 

Während der Corona-Pandemie hatte der Psychiater bereits Alarm geschlagen, weil immer mehr Kinder und Jugendliche psychologische Hilfe brauchten und er nie zuvor so viele Zuspitzungen mit suizidalen Krisen erlebt hatte. Die Wartelisten seien nach wie vor sehr lange, berichtet der Chefarzt jetzt, die Einnahme von Beruhigungs- und Schmerzmitteln stark angestiegen. Damit versuchten Jugendliche, mit den psychischen Belastungen und Ängsten klarzukommen. „Man könnte sagen, damit werden sie wie in Watte gepackt“, sagt der Psychiater.

Den „Erwachsenenblick“ ablegen

Er rät, den „Erwachsenenblick“ abzulegen, wonach für viele die Pandemie abgehakt ist. „Wir machen uns nicht klar, dass Kinder und Jugendliche auf Sozialkontakte, Klassenfahrten, Jugendfreizeiten und Ähnliches verzichten mussten“, sagt er. Vieles sei auch noch nicht aufgearbeitet, wie etwa der Tod von Großeltern, die im Krankenhaus nicht besucht werden konnten. Von Kindern und Jugendlichen werde erwartet, dass sie wieder „funktionieren“, als wäre nichts gewesen. „Wir wissen aber, dass psychische Probleme nach einer Ausnahmesituation wie Corona oft erst verzögert durchschlagen“, erklärt Gunter Joas.

Vielfältige Zukunftssorgen 

Hinzu kommt: Die Jugend ist im Dauerkrisen-Modus. Laut der englischen Vorveröffentlichung der COPSY-Studie (Corona und Psyche), in der 11- bis 17-Jährige im Herbst 2022 nach ihren Ängsten befragt wurden, nannten nur noch 10,4 Prozent die Corona-Pandemie. Zwischen 32 und 44 Prozent äußerten Zukunftssorgen aufgrund des Klimawandels, des Ukrainekriegs beziehungsweise der Finanz- und Energiekrise. Stark angestiegen sind psychosomatische Beschwerden wie Bauch-, Kopf und Rückenschmerzen und Schlafprobleme.

 

Es ist wichtig, nicht nur über Jugendliche zu sprechen, sondern mit ihnen zu sprechen.
Dr. Gunter Joas

 

„Es ist wichtig, nicht nur über Jugendliche zu sprechen, sondern mit ihnen zu sprechen“, betont der Chefarzt. Nicht jeder Streit oder Konflikt sei ein Alarmzeichen. „Aber wenn sich Kinder zurückziehen, sich nicht mehr mitteilen, Sozialkontakte abbrechen oder stark einschränken, kann das ein Signal für die Eltern sein, genau hinzuschauen.“ Familien sollten sich lieber früher als später an Hilfsangebote vor Ort wenden. In einem Gespräch lasse sich rasch abstimmen, ob eine weitergehende Hilfe notwendig sei. Je länger eine Erkrankung bestehe, desto länger der Heilungsprozess. „Wir müssen alle zusammen drohende chronische Verläufe bei Kindern und Jugendlichen verhindern“, so lautet sein eindringlicher Appell. Ein „Unding“ sei, dass die auskömmliche Finanzierung der Psychiatrischen Institutsambulanzen wegen der abwehrenden Haltung der Krankenkassen nicht gesichert sei. Dort erfolge die dringend notwendige schnelle Abklärung.

„Wir wollen die Hilfesysteme besser vernetzen“, so Gunter Joas. Dazu findet am Donnerstag eine große Regiokonferenz unter Leitung der KJP Esslingen, des Landkreises und des Sozialministeriums statt. „Darauf bin ich schon stolz.“

 

„Suizidgefährdete Jugendliche setzen meist Zeichen“

AKL Die Anlaufstelle für Menschen in Lebenskrisen rät, bei Hinweisen das Gespräch mit den Betroffenen zu suchen.

Kirchheim. Dass Krisen in der Jugend besonders häufig sind, erklärt die Geschäftsführerin des Arbeitskreises Leben (AKL) Nürtingen-Kirchheim, Dr. Alena Rögele, damit, dass Mechanismen zur Bewältigung und die Erfahrung durchlebter Krisen fehlen. Auslöser könnten große Veränderungen sein. Beispielhaft nennt sie den Tod einer nahestehenden Person oder einen Schulwechsel. Selbst für Eltern nicht nachvollziehbare Gründe könnten dazu führen, dass jemand seinem Leben ein Ende setzen wolle. Sie denkt an die 1990er Jahre, als die Auflösung von Boygroups Teenies reihenweise in tiefe Krisen stürzte.

„Menschen, die suizidgefährdet sind, setzen meist Zeichen nach außen“, sagt Rögele. „Bei jeder auffälligen Verhaltensänderung, die länger anhält, sollte man das Gespräch suchen“, rät sie. Starke Hoffnungslosigkeit, Einengung auf negative Denkmuster, sozialer Rückzug, das Infragestellen bisher wichtiger Beziehungen oder von Werten, das Aufgeben gewohnter Aktivitäten und das Verschenken wichtiger Gegenstände könnten Zeichen sein. Auch die Beschäftigung mit dem Thema „Tod“, das Verfassen von Abschiedsbriefen und konkrete Ankündigungen eines Suizids sollten ernst genommen werden. „Vorsicht ist geboten, wenn es einer Person, der es sehr schlecht ging, plötzlich deutlich besser geht. Das könnte auf einen gefassten Entschluss für einen Suizid hindeuten“, betont die Psychologin. „Hier ist es besonders wichtig, im Gespräch zu bleiben.“

Gesprächsbereitschaft bei Anzeichen jeglicher Art zu signalisieren, hält die AKL-Chefin für das A und O. Sich Zeit nehmen, das Gegenüber auf die Suizidalität ansprechen, sind ebenfalls Ratschläge. Offenheit, Vertrauen, Verständnis zeigen, Probleme der Jugendlichen ernst nehmen und keine Wertungen vornehmen, hält Rögele für hilfreich. „Durch Nachfragen, wie es zu dem Sterbewunsch kam und wie lange die Gedanken schon vorherrschen, gibt man dem Thema Raum“, sagt sie. Belehrungen oder „gut gemeinte Ratschläge“ seien kontraproduktiv. „Besser ist es, nach Lösungsversuchen der Jugendlichen zu fragen und sie aufzugreifen.“ Fragen, welche Unterstützung sie sich wünschen, was ihnen guttun würde. All das sind Tipps der Fachfrau. Genauso, die Jugendlichen zum Aufsuchen professioneller Hilfe zu motivieren.

Wer Suizidgedanken habe, sei nicht unbedingt „lebensmüde“, betont die Psychologin. Oft bedeute es, nicht mehr so leben zu wollen. Wenn sich die Dinge ändern, ändere sich meist auch die Einstellung zum Leben. Wichtig sei, keine Versprechen zu machen, die nicht eingehalten werden können.

Jugendliche erreicht der AKL in erster Linie durch Prävention an Schulen. Das Kirchheimer Ludwig-Uhland-Gymnasium etwa nutzt das Angebot. „Die Corona-Zeit hat wie ein Verstärker gewirkt, weil das soziale Gefüge gefehlt hat, sagt die Elternbeiratsvorsitzende Claudia Gerlach-Reck. Die Nachwirkungen werden uns noch eine Weile beschäftigen.“ Dass es Bedarf gibt, sich auszutauschen, wurde in einem Gesprächskreis für Eltern und Lehrkräfte mit rund 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmern deutlich. Geplant ist zudem ein Projekt in den zehnten Klassen. Dazu besucht eine AKL-Mitarbeiterin oder ein -Mitarbeiter jede Klasse für drei Stunden. Thematisiert werden Auslöser für Krisen, und die Jugendlichen überlegen, was ihnen in einer ausweglos scheinenden Situation guttun könnte. Anke Kirsammer

 

Zweithäufigste Todesursache
In Deutschland sterben jährlich fast 10 000 Menschen durch Suizid. Die -versuche werden auf das 10- bis 20fache geschätzt. Bei Jugendlichen und jungen Heranwachsenden ist Suizid die zweithäufigste Todesursache.
Der AKL ist erreichbar unter 0 70 21/7 50 02 oder per Mail an aklkirchheim@ak-leben.de. Die „Nummer gegen Kummer“ des Kinder- und Jugendtelefons ist die 116 111. Unter 0 70 71/25 42 81 oder per Mail an info@youth-life-line.de gibt es ein Online-Beratungsangebot. ank