Kirchheim
„Leck mich am Oarsch“: Wiener Schmäh, zwischen finster und heiter

Lesung Gerhard Polacek gibt in der Stadtbibliothek einen Einblick in die österreichische Seele.

Kirchheim. Mit Österreich assoziiert man doch Gemütlichkeit und schöne Landschaft. Was treibt die Österreicher plötzlich politisch so heftig um? Da passt es genau, dass der Esslinger Schauspieler Gerhard Polacek wieder zu einer Lesung durch Barbara Haiart vom Kirchheimer Literaturbeirat eingeladen wurde. Er lebt schon seit 38 Jahren in Esslingen, hat aber sozusagen österreichische Migrationswurzeln. Als hätte er die Frage geahnt, macht er einen „Versuch über die österreichische Seele“ anhand der österreichischen Literatur der letzten hundert Jahre.

Als erstes schnürte er ein Paket mit „Kaffeehausliteratur“ auf, die es vom Ende der Kaiserzeit bis zum abrupten Ende durch Hitler gab. Im Kaffeehaus hat man nicht nur Kaffee getrunken, sondern es war Treffpunkt und Lebensraum für Künstler und Schriftsteller. Was ist ein Kaffeehausliterat? Ein Mitglied hat definiert: „Ein Mensch, der Zeit hat, darüber nachzudenken, was die anderen draußen nicht erleben“. Die Kaffeehausliteraten bevorzugten kleine literarische Formen wie Feuilletons, Satiren und Lyrik. Alle folgenden Autoren waren Juden und sind konvertiert.

Zuerst kam der bekannteste Kaffeehausliterat dran, Egon Friedell mit einem Briefwechsel. Er soll einen Text für die Frankfurter Allgemeine liefern über das Thema „Die österreichische Seele“. Er spannt einen Schriftstellerkollegen ein. Doch es wird nichts. Dass er gewagt hat, sich der mächtigen Zeitung zu verweigern, macht ihn aber erst richtig berühmt. Fazit Friedell: „In Österreich wird man eben nur zum großen Mann, wenn man auffällig nichts tut. Man hat Friedrich den Großen nicht besiegt, man hat keine Reformen gemacht wie Kaiser Josef“.

Einen äußerst bitteren Nachgeschmack hinterlässt die Tatsache, dass sich Egon Friedell vor der Machtübernahme durch die Nazis aus einem Fenster seiner Wohnung zu Tode stürzte, um der Verhaftung zu entgehen.

Durch Flucht in die USA konnte sich der von 1890 bis 1941 lebende Anton Kuh retten. Er war Schriftsteller und muss ein improvisierender Vortragskünstler gewesen sein. Polacek hat von Kuh eine Satire über die unsägliche österreichische Bürokratie mitgebracht: Ein Bürger, der einen neuen Ausweis haben will, rechnet mit drei bis vier Tagen auf dem Amt und nimmt Verpflegung mit. Doch es kommt alles anders, alles geht ruck-zuck. Das Rätsel löst sich: In der Zeitung steht: „Beamtenstreik“. In einer weiteren Satire bietet der Österreicher einem quasselnden Düsseldorfer nur an: „Leck mich am Oarsch“.

Mit Alfred Polgar, der 1873 goren wurde und bis 1955 lebte, kommt ein bekannter Vertreter der Wiener Moderna zu Wort. In seinem Essay „Zu einem Gegenwartsthema“ äußerst er sich erstaunlich progressiv über Vorurteile und Flüchtlinge.

Einen völlig anderen Stil pflegte der Lyriker H.C. Artmann (1921-2000) mit dadaistischen Texten ohne Sinnanspruch, aber richtungsweisender Wirkung. Außerdem hat er den österreichischen Dialekt literaturfähig gemacht.

In die Jetztzeit kommen wir mit Peter Turrini mit seiner Satire „Horvaths Gebeine“. Erzählt wird von der Überführung der Gebeine Horvaths von Paris, wo er 1938 ums Leben kam, in ein Ehrengrab nach Wien im Jahr 1988. Mit nicht mehr zu steigerndem Sarkasmus demaskiert Turrini den öffentlichen österreichischen Pomp.

Als Zugabe gab es noch einen Text der österreichischen Autorin Erika Molny mit „Ein Amerikaner kommt in Berührung mit der Wiener Kultur“. Dieser Amerikaner fragt in der Straßenbahn mit dem Stadtplan in der Hand nach einer Straße. Eine junge Frau gibt mit ihrem Minimalenglisch Auskunft. Bei anderen Fahrgästen bricht ein Proteststurm aus: Diese Straße kann man unmöglich als Ziel haben, dort gibt es ein Lokal, in dem verheerend zubereitetes Essen angeboten wird. Polacek kann nun beim Artikulieren dieser Proteststimmen im Dialekt und der Lautstärke so richtig die Sau herauslassen.

Und nun? Wie sieht die Seele des Österreichers aus? Offensichtlich ist sie sehr facettenreich, zwischen den beiden Polen finster und heiter. Polacek hat wieder mal seine lebendige, mitreißende Vortragskunst bewiesen. Ulrich Staehle