Kirchheim

Literatur als bester Freund des Individuums

Lesung Arno Geiger stellt bei Zimmermann seinen Roman „Unter der Drachenwand“ vor.

Kirchheim. Auch Berufsleser haben ihre Lieblingsautoren. Arno Geiger nimmt diesen Platz bei Sibylle Mockler ein, der Geschäftsführerin bei Zimmermann. Der 1968 geborene Arno Geiger aus Wien erweist sich als wandlungsfähiger Autor, der die Bestsellerlisten beherrscht und die Preise abräumt. Von besonderer Breitenwirkung ist sein 2011 erschienener Roman „Der alte König in seinem Exil“, der von der Demenzerkrankung seines Vaters handelt. Hier wurde vor allem das Einfühlungsvermögen, die Empathiefähigkeit des Autors gerühmt. Dass es der Buchhandlung Zimmermann gelungen ist, diesen Autor, der sich in langer und entbehrungsreicher Arbeit in den zeitgenössischen Literaturhimmel emporgearbeitet hat, nach Kirchheim zu holen, ist ein Glücksfall.

Beim Roman „Unter der Drachenwand“ beweist Arno Geiger die besagte Empathie in höchstem Maße. Vor zehn Jahren, so berichtet er, hat er auf dem Wiener Flohmarkt ein „Konvolut Briefe“ aus den letzten Kriegsjahren erstanden. Zehn Jahre haben ihn diese Briefe und „tausend weitere“ mit ihren Personen in dieser Zeit innerlich beschäftigt. Er gab diesen Briefpersonen „Wirklichkeit“, gab ihnen Leben mithilfe der dichterischen Fantasie. Nach langem Reifeprozess von zehn Jahren schrieb er den Roman „in fünf Monaten wie im Rausch“ nieder, ein für ihn „künstlerischer Akt“, und verzichtete weitgehend auf Korrekturen: Der Kopf darf bei ihm am Ende nicht über das Bauchgefühl siegen.

Zum Leben erweckt werden in diesem Roman der Wehrmachtssoldat Veit Kolbe, 1944 gerade 24 Jahre alt, schwer verwundet auf Genesungsurlaub in Mondsee am Mondsee am Fuß der sechshundert Meter aufsteigenden Drachenwand. Dorthin hat sich auch Margot aus Darmstadt zurückgezogen, frisch verheiratet mit einem Soldaten und Mutter eines Babys. Ihre Mutter schreibt ihr immer wieder Berichte aus dem zerstörten Darmstadt. In Mondsee hält sich auch eine Gruppe landverschickter Mädchen auf, beaufsichtigt von einer unzugänglichen Lehrerin. Ganz Schlimmes hat der jüdische Zahntechniker Oskar Mayer zu berichten, dem die Flucht aus Wien zu spät gelingt.

Aus den redigierten Briefen und Tagebüchern ergibt sich eine seelische Innenaufnahme des Kriegsendes mit lauter vom Krieg und Verfolgung schwer verwundeten Seelen. Alle versuchen, in diesen Kriegszeiten den Alltag aufrechtzuerhalten und sich zu behaupten. Neben den Opfern gibt es auch die kleinen, aber wirkungsvollen Helfer des Unrechtssystems in Person von Veits Onkel, dem Dorfpolizisten. Durch die Vielfalt der Perspektiven wird das Geschehen im Sinne des Autors „komplexer“ und lebensnäher.

Geiger las Kostproben: In der ersten schildert Veit die Gesamtsituation in Mondsee mit der Kälte, den Entbehrungen und seinen Albträumen. Man lernt das Personal kennen, bei dem sich auch ein erklärter Nazigegner, der „Brasilianer“, befindet. In der zweiten schildert der Jude Mayer die uferlosen Schikanen, denen er ausgesetzt ist. Seine Familie geht ihm verloren. In der dritten Lesepassage gibt es einen Hoffnungsschimmer, denn, so Geiger, „den größten Abstand zum Krieg hat die Liebe“. Drei Liebespaare gibt es im Roman. Am glücklichsten und intensivsten entwickelt sich die zwischen Veit und Margot trotz der schwierigen Ausgangslage.

Die Textstellen sind Zeugnis des Anliegens des Autors, keine stringente Handlung, geschweige denn eine geschichtliche Analyse der damaligen Zeit zu geben. Die hätte der studierte Historiker Geiger auch leisten können. Es geht um die individuelle Befindlichkeit von Alltagsmenschen und ihre Möglichkeit, sich trotz schwerer Zeiten zu emanzipieren - ein durchaus aktuelles Thema. „Die Literatur ist der beste Freund des Individuums“, stellt Geiger mit Nachdruck fest. Der Autor hält diesen Roman für seinen besten. Zehn Jahre Reifezeit haben ihm gut getan. Als Zuhörer konnte man dem zustimmen genauso wie der eingangs vorgenommen Einordnung des Autors durch Sibylle Mockler.Ulrich Staehle