Kirchheim
„Man sollte alte Knaben nicht unterschätzen“

Politik Zum Neujahresempfang der Grünen hält Ministerpräsident Kretschmann eine emotionale Rede: eine Ansage gegen Auswüchse der Bürokratie. Von Thomas Zapp

Der Spaziergang durch Kirchheim mit Oberbürgermeister Pascal Bader vor der Veranstaltung hat den Landesvater inspiriert, besonders die Varini-Installation auf dem alten Fachwerk in der Max-Eyth-Straße: „Einen neun Blick auf Altgewohntes werfen, genau das müssen wir machen“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf dem Neujahresempfang der Grünen in der Kirchheimer Stadthalle. Aber wie soll man einen positiven Blick auf das noch junge Jahr werfen, wenn Frieden und Freiheit „ins Wanken“ geraten? „Ich bin 74, dass ich so etwas in Europa noch einmal erleben muss, hätte ich nicht gedacht“, sagt er. Seine Position zur Unterstützung der Ukraine macht er dabei deutlich: „Wenn Putin und Russland durchkämen, ständen wir vor ganz harten Zeiten.“

Weniger schlimm als gedacht

Aber wie es sich für eine Neujahrsrede gehört, sieht Winfried Kretschmann auch positive Zeichen: „Der Wutwinter hat nicht stattgefunden“, sagt er in Anspielung auf die vor allem von Populisten vorhergesagten Proteste gegen hohe Energiepreise. Überhaupt sei die Krise bislang glimpflicher verlaufen als gedacht. Flüchtlinge habe man in Baden-Würt­temberg vorbildlich aufgenommen: 140 000 Menschen – „mehr als in ganz Frankreich“, stellt der Landesvater stolz fest, um hinzuzufügen: „Es mangelt an europäischer Solidarität.“

Nur verhaltener Applaus kommt in der voll besetzten Stadthalle auf, als der grüne Ministerpräsident den grünen Bundeswirtschaftsminister lobt: „Dank an Robert Habeck. Er hat einen guten Job gemacht.“ Dass die Gasumlage gescheitert ist, sieht er nicht als Niederlage für seinen Parteikollegen. „Wenn Sie in einer Krise stecken, müssen Sie Entscheidungen treffen. Und als die getroffen wurde, hatte keiner gesagt ,Robert, lass es bleiben‘ “. Wenn man vom Rathaus komme, sei man immer schlauer, als wenn man reingeht, sagt der Ministerpräsident schmunzelnd in Richtung Kirchheimer OB.

Transformation oder Absinken 

Ein spürbar echtes Anliegen ist dem Grünen-Politiker, dass trotz Krisen das „Wichtige“ nicht ständig dem „Dringenden“ hintangestellt werde. Und das „Wichtige“ ist für den Mitbegründer der Grünen in Baden-Württemberg der Umweltschutz. Dass der amerikanische Präsident jetzt massiv „ökologisiert“ und Schlüsselindustrien im Solar- und Wind­energiesektor zurückholt, ist für ihn ein klares Signal. „Das erfordert eine starke europäische Antwort“, sagt Kretschmann. Und in Baden-Württemberg wolle er das konsequent umsetzen: schnell, pragmatisch und vor allem unbürokratisch. „Man sollte alte Knaben in der Politik nicht unterschätzen“, sagt er in Anspielung auf sich und den amerikanischen Präsidenten und unter großem Gelächter in der Halle.

Zukunftstechnologien müsse man halten – dabei verweist Kretschmann auf seinen Besuch beim Sensorhersteller Leuze in Owen am selben Tag sowie das geplante Werk von Cellcentric in Weilheim. Argumente, man brauche keine Neuansiedlungen, denn es gebe genug Arbeitsplätze in der Region, hält er für sehr gefährlich. „Wir müssen die Transformation schaffen, sonst sinken wir ab.“ Dazu und im Sinne der Bekämpfung des Klimawandels müsse die Bürokratie abgebaut werden. „Das ist ein dickes Brett.“ Die Genehmigung eines Windrads dürfe nicht sieben Jahre dauern, sondern höchstens ein Jahr. Dabei solle es neue Beteiligungsformen für die Bürger geben, sagt er gegenüber dem Teckboten. Eine Verschlechterung für die Bürger dürfe es durch beschleunigte Verfahren nicht geben. 

Auch eine Photovoltaikpflicht für neue Gebäude werde nun konkret. „Das bedeutet 60 000 Anlagen. Da passiert etwas“, betont er. Zur Wahrheit gehören auch Nachteile: „Das müssen wir bei Windkraft auch hinkriegen. Aber das wird unsere Landschaft verändern und die Menschen, die so etwas schön finden, sind in der Minderheit.“ 1000 Windräder entsprechen etwa einem Prozent der Fläche in Baden-Württemberg, doch wenn der Klimawandel ungebremst weitergeht: „Dann wird’s die Landschaft nicht mehr geben.“

Aber auch das ist Kretschmann: Er verteufelt nicht die Menschen, die in der Bürokratie arbeiten. Die hätten sich all das nicht ausgedacht und grundsätzlich sei Bürokratie etwas Positives. Vielmehr sei die Überbürokratisierung eine Folge des zunehmenden Sicherheitsdenkens in der Gesellschaft.

Was ihm Mut macht für 2023, ist die menschliche Kreativität. „Das Grandiose an der Menschheit ist, dass wir verschieden sind. Es gibt mehr Kombinationsmöglichkeiten der Chromosome als Atome im Universum, jeder Mensch ist einzigartig.“ Um dann mit Hölderlin abzuschließen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“