Kirchheim

Musizieren in schwieriger Zeit

Geschichte Susanne Ecksteins Buch „Nah und fern zugleich – Musikleben im Oberamt Kirchheim/Teck 1800-1906“ gibt Einblicke in die Tradition von Chören und Kapellen.  

Ende des 19. Jahrhunderts machte eine Familienkapelle aus Kirchheim Furore, die „Wagemann‘sche Kapelle“. Aufsehen erregten vor allem die jungen Bläserinnen.

Wer sich für das lokale Musikleben im 19. Jahrhundert interessiert, bekommt Lesestoff: „Nah und fern zugleich – Musikleben im Oberamt Kirchheim/Teck 1800-1906“. Die aus Bissingen stammende Autorin Susanne Eckstein hat über dieses Thema promoviert und stellt die Ergebnisse ihrer Arbeit nun einer breiten Leserschaft zur Verfügung. Dafür hat sie ihre Dissertation überarbeitet, mit zusätzlichen Abbildungen versehen und als gut lesbares, detailreiches Buch für alle veröffentlicht.

Ausgangspunkt war ein auf dem Dachboden gefundenes handgeschriebenes Notenbuch für Flügelhorn II aus dem Jahr 1895, das allerdings nicht den gängigen Vorstellungen von „Volksmusik“ entspricht: Es enthält Kirchenlieder und patriotische Stücke, und zwar getrennt von vorn und von hinten her in das Büchlein eingetragen; in der Mitte finden sich leere Seiten, Lieder und Konzertstücke. Daraus ergab sich die Frage: Zu welchen Anlässen wurde im 19. Jahrhundert in der Region eigentlich musiziert? Wer hat Musik gemacht oder gesungen? Wie waren die Besetzungen und die Rahmenbedingungen?

Manche Vereinsarchive reichen nur bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Die Angaben in den Festschriften sind auch nicht immer zuverlässig. Die Forscherin suchte also in den öffentlichen Archiven nach Spuren des realen Musiklebens. Eine Riesenaufgabe, die wenigstens teilweise von Erfolg gekrönt war, unterstützt durch Archiv-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort.

Als wichtige Informationsquelle erwies sich die damalige Tagespresse. Zunächst vor allem das „Kirchheimer Wochenblatt“, das ab 1832 vorwiegend als Anzeigenblatt erschien, ab 1856 dann der „Teckbote“ mit redaktionellen Beiträgen. In den Zeitungen fanden sich nicht nur Hinweise auf Musikveranstaltungen aller Art in Anzeigen, Berichten und Besprechungen, sondern auch auf das oftmals schwierige Umfeld; viele Chorsänger und Musizierende zogen weg. Ein gravierender Einschnitt war die Einführung der Einheits-Kirchweihe: Konnten die Musiker vorher an jedem Wochenende irgendwo zur Kirchweihe aufspielen, fand diese im Königreich Württemberg ab 1852 nur noch am dritten Sonntag im Oktober statt.

Manches wurde in späteren Zeiten vergessen: etwa die Versuche von Kirche und Schulbehörden – die im Übrigen zusammengehörten –, das mehrstimmige Singen in Schule und Gottesdienst zu fördern, was auch den späteren Gesangvereinen zugute kam. Oder die zivilen „Janitscharia“-Kapellen, die um die Jahrhundertmitte das sogenannte türkische Schlagwerk mit Becken und großer Trommel aus der Militärmusik übernahmen und ihre Zeitgenossen mit „rauschender“ Musik beeindruckten.

Spannend ist es auch, die Aufzeichnungen des Kirchheimer Musikers und Küblers August Brackenhammer aus den Jahren 1871/72 mit den in der Presse zu findenden Angaben über die Musikveranstaltungen zu vergleichen, oder die Karriere der Wagemann’schen Familienkapelle aus Kirchheim zu verfolgen, in der – man glaubt es kaum – junge Frauen auf Blasinstrumenten brillierten. Den Frauen wird ohnehin ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch die Beziehungen zur Seminarstadt Nürtingen spielen eine wichtige Rolle; die Kirchheimer Musikfreunde pilgerten zu Fuß dorthin, um große Aufführungen zu erleben.

Warum im Königreich Württemberg der Unterricht auf Blasinstrumenten generell zu kurz kam, wird ebenso beleuchtet wie die Hintergründe für den Erfolg der Militärkapellen und deren besondere Rolle im Musikleben. Vieles gilt nicht nur für das frühere Oberamt Kirchheim und die Region, sondern auch darüber hinaus, etwa der Unterschied im Musikleben der traditionell katholischen und evangelischen Orte.se

Das Buch „Nah und fern zugleich – Musikleben im Oberamt Kirchheim/Teck 1800-1906“ (234 Seiten, zahlreiche Abbildungen) ist im Buchhandel sowie online bei www.finkeria.com

1876 lud ein „Wahrheitsverein“ in Bissingen zum „Hasen-Ball“. Vermutlich nannte sich ein Lokal nach dem Lied „Zur Wacht am Rhein“.
In einem „lustigen Kalender“ wird der „Luile von Häslich“ karikiert – ein Musiker, der nach Einführung der Einheits-Kirchweih 1852 zur Auswanderung schreitet.
In einer typischen Anzeige wird 1840 im Kirchheimer Wochenblatt zum Kirchweihtanz nach Dettingen eingeladen.