Kirchheim
Nach Flucht aus der Ukraine: Kein Kita-Platz für Artjom

Bildung Kindergartenplätze sind in Kirchheim Mangelware. Eine Konsequenz: Kinder, deren Mütter aus der Ukraine geflüchtet sind, erhalten keinen Kita-Platz. Von Antje Dörr

Artjom ist gerade sechs Jahre alt geworden. Blondes strubbeliges Haar, Kreuz um den Hals und immer in Bewegung. Andere Kinder gehen um diese Zeit in den Kindergarten, Artjom nicht. Der Junge ist am 10. März mit Mutter Lada und seinem 13-jährigen Bruder in Deutschland angekommen, nach einer Flucht, die die Familie vier Tage lang durch Rumänien, Moldawien, Ungarn und Österreich führte. Im August kam die Großmutter nach. Nadja Hahnfeld, Artjoms Tante, wohnt im selben Haus zwei Stockwerke tiefer.

 

Wir schauen, dass die Kinder, die 2023 eingeschult werden, auf jeden Fall noch einen Kita-Platz bekommen.
Christine Kullen, Bürgermeisterin
 

Ukrainische Geflüchtete sind in Kirchheim herzlich aufgenommen worden. Die Tatsache, dass Lada H. und ihre Kinder sofort eine Wohnung gefunden haben, ist ein Beweis dafür. Nur Kindergartenplätze kann die Stadt den Familien nicht bieten. Deshalb verbringt Artjom, der in der Ukraine mit zweieinhalb in die Kita kam, sein Vorschuljahr bislang hauptsächlich mit Mutter, Tante und Großmutter. 

„Wir bemühen uns, ihn zu integrieren und in Kontakt mit anderen Kindern zu bringen“, sagt Nadja Hahnfeld. Anfangs nahm ihn Mutter Lada, die in der Ukraine als Neurologin gearbeitet hat, mit zum Integrationskurs. Die Kinder wurden dort betreut, damit die Mütter in Ruhe lernen konnten. Montags geht die Großmutter mit Artjom zu einer Spielgruppe der Familien-Bildungsstätte (FBS), mittwochs wird Deutschunterricht für Kinder angeboten. Zwei Mal in der Woche besucht Artjom die Kampfsportakademie im benachbarten Riethmüller-Areal und darf sich dort austoben. Die Mutter geht mit ihm auf den Spielplatz und hat ein Fahrrad für ihn besorgt. Artjom hat offenbar das Glück, in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem man weiß, was er braucht – und in dem man sich zu helfen weiß. Und dennoch leidet der Junge unter der aufgezwungenen Einsamkeit, vermisst Spielkameraden. Er spricht bislang kaum Deutsch, langweilt sich. „Er stellt hier alles auf den Kopf“, sagt Mutter Lada.

Dass in Kirchheim bislang kein einziges ukrainisches Kind einen Kindergartenplatz erhalten hat, liegt laut Christine Kullen daran, dass es insgesamt zu wenige gibt. Die Zahl fehlender Kita-Plätze sei dreistellig, sagt die Kirchheimer Bürgermeisterin. Viele Kinder warteten auf einen Kindergartenplatz. „Die ukrainischen Kinder werden behandelt wie alle anderen auch, sie stehen auf der Warteliste“, sagt Kullen. Von den 63 Kindern aus der Ukraine, die in der Stadt gemeldet sind und einen Rechtsanspruch auf Betreuung haben, sind allerdings bisher nur 20 für den Kindergarten angemeldet. 

Wie schnell es geht mit dem Kita-Platz, hängt in Kirchheim auch davon ab, wie viele Kriterien ein Kind beziehungsweise Elternhaus erfüllt. Generell gilt: Je älter ein Kind, desto schneller erhält es einen Platz. „Wir schauen, dass die Kinder, die 2023 eingeschult werden, auf jeden Fall noch einen Kita-Platz bekommen. Es ist wichtig, dass die Kinder vor der Grundschule in die Kita gehen“, sagt Kullen. Auch, wenn Eltern alleinerziehend oder erwerbstätig sind, ist das ein Pluspunkt.

„Wir schaffen aktuell viele Kita-Plätze, aber es geht nicht so schnell, wie es sollte“, sagt Chris­tine Kullen. Eine Art Notanker bildet die Ankündigung der Landesregierung, dass die Höchstgruppenzahl in Kitas zeitlich befristet um bis zu zwei auf maximal 28 Kinder erhöht werden darf. Grund ist die steigende Zahl von Flüchtlingskindern ohne Kita-Platz. Das soll in jenen Kirchheimer Kitas umgesetzt werden, „in denen wir das entsprechende Personal haben“, so Kullen. 

Nadja Hahnfeld, Artjoms Tante, hat Verständnis dafür, dass die Stadt nicht von heute auf morgen einen Kindergartenplatz für den Jungen zur Verfügung stellen kann. Dennoch wünschen sie und Mutter Lada sich, dass Artjom bald in die Kita gehen kann und die Möglichkeit hat, mit anderen Kindern zusammenzukommen. „Er verlernt das sonst“, sagt Nadja Hahnfeld, die hofft, dass Artjom trotz der fehlenden Sozialkontakte in der Lage sein wird, im kommenden Herbst die Schule zu besuchen. „Kinder brauchen Kinder.“

Als Kita-Alternative verweist die Bürgermeisterin auf acht Spielgruppen, die von verschiedenen freien Trägern für ukrainische Eltern und Kinder geschaffen worden sind. Kullen weiß, dass die Spielgruppen kein Ersatz sind. „Das sind nur zehn Stunden pro Woche, die wir anbieten können.“ Allerdings sei das Angebot sehr breit, es gebe keinen Wochentag, an dem nichts stattfinde. „Wir würden uns wünschen, dass noch mehr ukrainische Flüchtlinge von den Angeboten Gebrauch machen“, sagt sie.