Kirchheim
Nazi-Terror: Wie konnte es in Deutschland soweit kommen?

Geschichte In der Teck- Realschule war die Autorin und Journalistin Janka Kluge zu Gast.
Sie sprach am „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Von Helga Single

Der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ ist der Jahrestag der Befreiung der Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und den beiden anderen Konzentrationslagern Auschwitz.

Im Zusammenhang mit dem 9.  November, der Pogromnacht, hatte Janka Kluge, Journalistin und Autorin aus Stuttgart mit „Schwerpunkt auf den Nationalsozialismus“ den Vortrag bereits vor den Zehntklässlern der Teck- Realschule gehalten, woraus die Idee entstand, an einem anderen Gedenktag an die NS-Vernichtungspolitik zu erinnern. Damals wie heute legte sich große Stille über die Aula als sie von ihren Erlebnissen ihrer Recherchereise nach Lodz erzählte. 2022 besuchte sie die Gegend und schilderte in sachlich nüchternem Ton eindringlich, mit gekonnt gesetzten rhetorischen Pausen, die Zustände vom „Ort des Grauens“, dem Ghetto in Lodz, und den menschenverachtenden Vorgehensweisen der NS- Vernichtungspolitik.

 

Das Ghetto in Lodz war der Wartesaal zur Ermordung.
Janka Klug
 

Ausführlich beschrieb sie die Details und erläuterte den Zusammenhang zwischen den wahren Begebenheiten und der Frage: Wie konnte es soweit kommen? Genau diese Frage wurde zuvor aus dem Publikum gestellt. Man hatte die Diskussionsrunde kurzerhand vorverlegt, denn die Autorin hatte sich verspätet. Moderator und Gemeinderat bei den Linken, Heinrich Brinker, fragte nach der Motivation der Anwesenden, die sich darin einig waren, dass die Erinnerungskultur aufrechterhalten werden müsse, aber keine Schuldkultur entstehen dürfe. Besonders die junge Generation müsse daraus lernen, dass Aggression und Gewaltherrschaft nicht verhandelbar sei und nicht zu einer freien Gesellschaft passe, ein friedvoller Umgang miteinander sei wichtig. „Diese Verpflichtung gilt für alle, die in einer freien Gesellschaft leben, mit und ohne Migrationshintergrund und ohne Ausnahme“, formulierte es Günter Riemer, Kirchheims Erster Bürgermeister, in seinem Grußwort.

Viele der Anwesenden hatten Motive aus ihrer persönlichen Familiengeschichte heraus mitgebracht und sprachen von „einer unglaublichen Verdrängungskultur“, die damals in den Elternhäusern geherrscht habe. Sie gaben an, dass die Besuche in Auschwitz oder Buchenwald einerseits bis heute nachwirkten, andererseits sie durch das Erlebte wachgerüttelt wurden und dies genau der Impuls gewesen sei, sich seitdem politisch zu engagieren. „Was sind die Dinge, die ich heute machen kann, damit das nicht mehr passiert?“ – auch diese Frage bewegte alle, die an diesem Abend gekommen waren, besonders vor dem Hintergrund rechter Gewalt, der NSU- Morde und dem Anschlag von Hanau. Ein älterer Besucher hatte seine Enkeltochter mitgebracht und erzählte sichtlich bewegt über die Besichtigung in Auschwitz. Janka Kluge war es wichtig zu betonen, dass „die Vernichtung der Menschen an vielen Opfern stattgefunden hat, die alle Ausgrenzung erfahren hatten“.

Wie konnte es soweit kommen? Der Versuch einer Antwort darauf: „Mit einer 300-prozentigen Überzeugung, dass alles richtig ist; mit einer Idee von einem unbedeutenden ,Rad im Getriebe‘ zu sein, das die ,Maschinerie‘ nicht aufhalten würde und mit einer stufenweisen Radikalisierung, die so manche moralischen Bedenken über Bord werfen ließ, fing alles an“, vermutete sie.

Die geschichtlichen Zusammenhänge

Lodz war eine der größten Städte Polens mit einer Bevölkerung von 600 000 Menschen und einer großen jüdischen Gemeinde mit ungefähr 232 000 Menschen. Es gab 70 Synagogen, die alle bis auf eine, die „Reicher Synagoge“, zerstört wurden. Nach der deutschen Besatzung erfolgte die Umbenennung von Lodz in Litzmannstadt und die Gegend war das Warthegau. Um die Armenviertel der Stadt zog man 1940 einen Zaun mit Stacheldraht und deren Bewohner waren fortan Juden, Sinti und die osteuropäische Intelligenz. Es entstand ein Ghetto und diente als Sammellager und Durchgangsstelle. Janka Kluge nennt es den „Wartesaal zur Ermordung“, in den Menschen aus ganz Deutschland deportiert und später weiter in Vernichtungslager gebracht wurden. Diejenigen, die arbeiteten und dem Regime nützlich waren, hatten eine Chance zu Überleben. 160 000 Menschen lebten dort am Anfang in schlimmen Verhältnissen, geplagt von Hunger, Kälte und Krankheiten. Das Ghetto war ein kleiner Staat für sich mit einer eigenen Struktur.

Die Ghettoverwaltung wies Menschen mit journalistischen Berufen an, eine Chronik zu verfassen. „Es gibt kein KZ und kein Ghetto, wo wir so viel darüber wissen, was kein Täterwissen ist. Rund 5000 Seiten Originalberichte gibt es“, erklärte Janka Kluge. Der kleine Bahnhof vor Ort diente als Umschlagplatz, von dem aus 200 000 Menschen in Deportationszügen in Vernichtungslager wie Stutthof, Ravensbrück, Sachsenhausen, Auschwitz oder ins 60  Kilometer entfernte Kulmhoff (Chelmo) fuhren. „Bei der Wannseekonferenz ging es um den Effizienzgedanken der Vernichtung“, führte Janka Kluge aus. „Mit den Erschießungen sei es zu langsam voran gegangen, eine andere Lösung musste her“, führte sie weiter aus. Die SS unternahm Experimente mit Gas und perfektionierte auf perfide Art und Weise die Methode.

Eingeladen zu dem denkwürdigen Abend hatten die Teck-Realschule, der DGB Esslingen-Göppingen, der Rosa-Luxemburg-Club Kirchheim und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Esslingen-Nürtingen.

 

Endlich Frau sein

Janka Kluge kämpft seit 40 Jahren gegen rechte Gesinnung und ist in der Transgender Community aktiv. Die Stuttgarterin war viele Jahre Landessprecherin der VVN- BdA, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschisten in Baden- Württemberg. Mitte der 80er Jahre gründete sie zusammen mit zwei anderen Frauen in Stuttgart eine der ersten Selbsthilfegruppen für Transsexuelle in Deutschland und begleitete Hunderte transgeschlechtliche Menschen auf ihrem Weg. Sie war eine der ersten Frauen, die nach dem damals neuen Transsexuellen Gesetz (TSG 1980), den Weg der Transition ging, um endlich Frau sein zu können. his