Kirchheim
Ohne Stempel bleiben die Türen zu

Migranten Für Kinder aus Flüchtlingsfamilien ist ein Platz im Kindergarten meist die einzige Chance auf eine normale Entwicklung. Doch den zu bekommen, ist nicht immer leicht. Von Bernd Köble

Omar (Name geändert) ist fünf Jahre alt und kommt aus Syrien. Seit November lebt er mit seiner Familie in einer kleinen Wohnung im Lenninger Tal. Daheim herrscht Enge. Spielkameraden gibt es nicht. Der Alltag verläuft meist zwischen vier Wänden. Der Besuch eines Kindergartens könnte dazu beitragen, dass sich Omars Leben ändert, doch dort bleiben die Türen für ihn seit Monaten verschlossen. Die ärztlichen Untersuchungen, die das Gesetz vorschreibt, können er und seine Eltern nicht lückenlos nachweisen, obwohl das Problem schon lange bekannt ist.

Für Ina Walter kein seltenes Beispiel. Die Mitarbeiterin der Bruderhaus-Diakonie begleitet Familien, die vor Krieg und Verfolgung in ihrer Heimat geflohen sind. Wenn es darum geht, einen Termin beim Kinderarzt zu vereinbaren, weiß sie, was sie erwartet: zeitraubende und zermürbende Arbeit, endlose Telefonschleifen, oft ohne Ergebnis. „Das sind keine Ausnahmefälle, das ist unser
 

„Wenn es um einen Termin beim Kinderarzt geht, bekomme ich Schweißattacken.
Ina Walter
Sozialarbeiterin bei der Bruderhaus-Diakonie

 

Alltag“, sagt die Sozialarbeiterin. „Wenn es um einen Termin beim Kinderarzt geht, bekomme ich Schweißattacken.“ Dabei wäre vor allem für die Kleinsten ein rascher Zugang zum Kindergarten so wichtig. „Die meisten der Kinder leben in sehr beengten Wohnverhältnissen ohne jeglichen Kontakt zu Gleichaltrigen“, sagt sie.

Viele Hausärztinnen und Hausärzte lehnen die sogenannten U-Untersuchungen bei Kindern ab. Als Neu-Patient einen Termin beim Kinderarzt zu bekommen, gilt jedoch generell als schwierig. Seit wegen Corona die meisten Praxen nur noch telefonisch erreichbar sind, erst recht. Kommen Sprachprobleme und fehlende Erfahrung mit dem Gesundheitssystem hinzu, wird die Sache ohne fremde Hilfe aussichtslos.

Dabei liegt die Versorgungsquote bei Kinderärzten im Landkreis nach jüngsten Zahlen vom Oktober vergangenen Jahres bei 111,2 Prozent. „Statistisch betrachtet ist der Kreis Esslingen überversorgt“, sagt Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung in Baden-Württemberg. „Das heißt nicht, dass es in manchen Gebieten nicht zu Engpässen kommt.“ Erfahrungen im Alltag und das, was auf dem Papier steht, sind oft zweierlei. Das Problem: die zunehmende Konzentration. Der Wunsch nach mehr Teilzeit und geregelten Arbeitszeiten, mehr Bürokratie und Dokumentationspflichten, das alles führt dazu, dass es immer mehr Gemeinschaftspraxen gibt. „Wo heute eine Praxis übergeben wird, hat der Nachfolger in aller Regel andere Vorstellungen von Abläufen und Arbeitszeiten als sein Vorgänger“, sagt Kai Sonntag. Weil sich bei Haus- und Kinderärzten in der Vergangenheit viele Einzelpraxen übers Land verteilt haben, herrscht hier besonders häufig ein gefühlter Mangel.

Nicht immer sind jedoch fehlende Papiere schuld, wenn es mit einem Kindergartenplatz nicht klappt. Es fehlt an Plätzen und an Personal. Auch in Kirchheim gibt es mitunter lange Wartelisten, wie Renate Hirsch, Leiterin der Beratungsstelle „Chai“ der Bruderhaus-Diakonie in der Alleenstraße berichtet. „Vor allem nach einem Umzug kann es bis zu einem halben Jahr und länger dauern“, sagt sie.

Das größte Problem in der medizinischen Betreuung stellt für sie die hausärztliche Versorgung dar. Viele Migranten, die bei ihr Hilfe suchen, leiden unter schlecht versorgten chronischen Erkrankungen. Einen Hausarzttermin zu bekommen, sei schon vor der Pandemie schwierig gewesen, berichtet Renate Hirsch. Die Ratlosigkeit auch unter den Helferinnen und Helfern wächst. „Manchmal bleibt als letzter Ausweg leider nur die Notaufnahme im Krankenhaus.“
 

U-Untersuchungen als Sozialhilfeleistung

Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen bei Kindern – sogenannte U-Untersuchungen – sind vom Säuglingsalter bis zur Pubertät in 14 Stufen unterteilt. In Baden-Württemberg ist die Untersuchungsreihe, die in einem gelben Heft dokumentiert wird, seit 2009 verpflichtend und eine der Grundvoraussetzungen für einen Kindergartenplatz.
Bei Zugewanderten werden die Kosten für die Untersuchungen in den ersten 18 Monaten von der Sozialhilfe im Rahmen des Asylbewerber-Leistungsgesetzes übernommen. Zuständig sind in diesem Fall die Landratsämter. Danach springen in der Regel die gesetzlichen Krankenkassen nach einer Meldung über das Jobcenter ein.  bk