Kirchheim. Zu einer Lesung gehören ein Tisch, ein Stuhl und eine Lampe. Im Ausstellungsraum des Kornhauses waren Tisch, Stuhl und Lampe da, doch sie waren beiseitegeschoben. Der Künstler brauchte
den Platz für den Körpereinsatz, der die Rezitation der Texte begleitete. Es handelte sich weniger um eine Lesung von Texten als um eine Performance. Der Literaturbeirat hatte einen der bedeutendsten Performancekünstler eingeladen: Timo Brunke.
Brunke hat sein im letzten Jahr erschienenes Buch „Orpheus downtown“ nach Kirchheim mitgebracht. Eigentlich widerspricht ein gedruckter Text der Form der Performance, die sich im Vortrag erfüllt, doch Brunke hatte das Bedürfnis, seine bisherigen Kreationen zusammenzufassen. Schließlich gibt es angesichts der Zunahme an gesprochener Dichtung einen Schweizer Verlag mit einer Reihe „edition spoken script“. Brunke erklärte den Titel „Orpheus downtown“. Orpheus, sprich: die hohe Dichtung, sei immer anwesend, beispielsweise im Dunstkreis des Literaturbeirats. Von dieser Ebene gehe seine Poesie nun hinab in die „Megacitys“, in den popkulturellen Untergrund.
In vier Kapiteln hat Brunke seine Texte eingeteilt. Daraus gab es Kostproben. „Häuser“ stammt aus dem Kapitel „Stadt und Ding“. Häuser sind lebendige Wesen mit Mündern (Türen), Wimpern (Blumenfenster), Nasen (Balkone) und Hüten (Dächer).In „Riesenstandort“ kommt eher das Beängstigende eines Großstadtbetriebes zum Vorschein, in dem angesichts der „Menschenmassenkörperschaften“ das Menschliche verloren geht. Sehr anschaulich wird der „Orpheus“, der „downtown“ geht, demonstriert in der „Tetra-Ode im Übermarkt“: Die rhythmische Form und der Stil sind von Hölderlins hohem Oden-Ton inspiriert, verhandelt wird aber der banale Vorgang eines Einkaufs im Supermarkt mittels eines Einkaufswagens, genannt „rasselndes Gitterkalb“.
Das Kapitel „Stoff und Form“ bringt erzählende Texte, die sich um die Geschichte und um Geschichten ranken, historische und private. In „Mein Millennien–Memory“ geschieht ein historischer Parforceritt von Christi Geburt bis zum Jahr zweitausend, in „MC Fat Kiss – Die Story meines Lifes“ wird das Leben eines Machos durch zu viele feuchte Mutterküsse geprägt. Sehr erholsam, feinfühlig und poetisch nimmt sich dagegen „Das Zarteste von der Welt“ aus: Ein Falter erntet ein Pollenstäubchen in einer Blumenblüte.
Im Kapitel „Bild und Kunst“ geht es um poetologische Probleme, etwa um die Bedeutung des gesprochenen Wortes: „Das gesprochene Wort ist mir“ mit der Pointe „Das gesprochene Wort ist mir/die bestmögliche Aufführung dieses Poems,/der Traum des Bühnenpoeten/von vollendeter Gegenwart“. Literarische Epochenschubladen werden ironisch definiert in „isismus“. Im letzten Kapitel „Sang und Klang“ verschwindet der Inhalt immer mehr zugunsten des Klanges. Von Goethes „Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh‘n“ geht es „downtown“ zu einer schwäbischen Fassung und schließlich zu einer in Kiez-Deutsch. Nur aus Lauten besteht der Text „Hörst du die Glocken?“ Der Klang der Glocken in Köln, Chartres und anderswo ist in der gedruckten Form kaum nachvollziehbar.
Hier ist die lautmalerische Artikulationskunst Timo Brunkes vonnöten, der die Glockentöne hörbar macht und mit den Glocken der Wurmlinger Kapelle die Lesung ausklingen lässt. Bei den übrigen Texten, die er mit absoluter Textsicherheit einem begeisterten Publikum auswendig vorträgt, setzt er seine überragende Performancekunst ein. Jede Stimmlage, jede Mimik, jede Geste, jede Bewegung stimmt und reißt den Zuhörer in den Strom der Sprache. Wer es nicht erlebt hat, hat Grund, sich zu ärgern.