Kirchheim
Reisen zwischen Realität und Fantasie

Lesung Marcus Hammerschmitt liest „Wanderlust-Verse und Prosa zum Reisen“. Von Ulrich Staehle

Kirchheim. Es ist erstaunlich: der Literaturbeirat der Stadt Kirchheim, der sich satzungsgemäß um die Literatur der Region kümmert, begibt sich bei seinen sonntäglichen Lesematineen kaum mehr in die Vergangenheit, sondern stellt taufrische schriftstellerische Produkte vor. Diesmal sind es die von Marcus Hammerschmitt, Jahrgang 1969, einem Multitalent. Er hat in Tübingen Philosophie und Literaturwissenschaft studiert und ist als Schriftsteller in den verschiedensten Gattungen tätig. Vor allem mit Science- Fiction- Erzählungen hat er sich einen Namen gemacht und Preise abgeräumt. Mitgebracht hat er zum Thema Reisen zwei Gedichtbände und eine Erzählung.

Der Gedichtband „Der Brief des Nachtportiers“ von 2019 ist die erste, in limitierter Auflage erschienene Lyriksammlung des Autors. Hammerschmitt las eine Auswahl daraus vor, danach aus dem Lyrikband „Halbdunkles Licht“ von 2022. Diese Sammlung schafft einen regionalen Bezug: die Gedichte sind in den vier Jahren, in denen der Autor in Kirchheim gelebt hat, entstanden.

Die Gedichte stellten an die handverlesene Zuhörerschaft im Max-Eyth-Haus hohe Anforderungen- wie häufig bei moderner Lyrik. Hilfreich waren zwar einige Erklärungen und Zwischenbemerkungen des Autors: Auch wenn erst jetzt von ihm Lyrikbände erschienen sind, so seien Gedichte für ihn die „Quelle der Schriftstellerei“ gewesen.

Er verglich sich mit einem Strandläufer, der Strandgut sammelt und einige Zeit liegen lässt. Wenn die Zeit reif ist, werden Gedichte daraus.

Die Zuhörer stellen auf jeden Fall fest, dass er als Fotograf eines aufwendigen Fotobandes auch als Poet sehr „lichtempfindlich“ ist, dass Träume eine große Rolle spielen und dass immer wieder Zivilisationskritik durchschimmert. Schade, dass am Schluss nicht, wie in Aussicht gestellt, dem Publikum noch etwas Verständnishilfe geleistet wurde angesichts der Montage von Assoziationsketten.

Handfest realistisch hörte sich das Anfangskapitel von „Rom“ an. Der Autor gab dem Text den Untertitel „Fantastische Erzählung“ und informierte, sie werde sich auf einem schmalen Grad zwischen einer realen und einer imaginären Ebene bewegen.

Die reale Ebene macht keine Probleme: Der Profifotograf Wolf und seine Ehefrau Katja, die in einem Architekturbüro arbeitet, wollen eine einwöchige Romreise antreten. Er erhofft sich starke Bilder, sie herrliche Architektur. Als „Ausnahmetouristen“ wählen sie für die Hinfahrt den Nachtzug ab München. Doch im Morgengrauen stoppt der Zug – endgültig.

Sie erfahren, dass ein Zugstau bis nach Verona bestehe, bald bis Rom. Hier kippt die Handlung ins Fantastische. Science- Fiction lässt grüßen. Noch fantastischer ist der Plan der beiden, nach Rom zu Fuß durch die stehenden Züge zu gehen. Zeit haben sie dazu. Ende der Leseprobe.

Die Frage drängt sich auf: Was wird aus diesem verrückten Plan? Hammerschmitt verrät nur, dass es kein Krimi ist, sonst nichts. Soviel sei verraten: Die Zugwanderer sind nicht von der Welt abgeschlossen, sondern erfahren viel von zeitgenössischer deutscher und ausländischer Befindlichkeit. Andererseits macht sich das Fantastische immer mehr breit.

Ganz präsent war das Vergnügen an Hammerschmitts Vortragskunst. Was schon beim Gedichtvortag spürbar war: er ist nicht nur Sprachkünstler, sondern auch Vortragskünstler. Der Vortragskünstler hat in diesem Fall die größte Nähe zum Vorgetragenen und kann es plastisch gestalten. Das und seine unprätentiöse Art schufen eine Nähe zum Autor.

Gastgeber und Kulturchef Kirchheims, Frank Bauer, kündigte an, dass der Literaturbeirat bei künftigen Lesungen dem „Reisen“ treu bleiben wird.