Kirchheim
Schmerzhafter Abschied vom Kindsein

Trauer Das Elternhaus steht für Geborgenheit und Konstanz im Leben. Wer es auflösen und entrümpeln muss, trauert und muss lernen loszulassen. Jedes einzelne Stück weckt Erinnerungen. Von Irene Strifler

Jeder trauert anders. Während es die einen ans Grab eines geliebten Menschen zieht, zünden andere eine Kerze an, und dritte suchen Plätze auf, die man gemeinsam besucht hat. Ähnlich unterschiedlich gehen die Menschen mit der Aufgabe um, die Wohnung der verstorbenen Eltern auflösen zu müssen. Allen gemein ist, dass dies an niemandem spurlos vorbeigeht. Das Elternhaus vermittelt Geborgenheit, die Existenz der Eltern steht für Konstanz im Leben.

Das weiß niemand besser als Christina Erdkönig, die schnell nacheinander beide Eltern verloren hat, erst die damals 71-jährige Mutter durch eine Hirnblutung, dann den Vater durch Krebs. „Ich war zwar schon fast 40 und hatte selbst Kinder, trotzdem wurde eine Lücke in mein Leben gerissen, auf die ich nicht vorbereitet war“, erzählt die Rundfunkjournalistin. Auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft Hospiz Kirchheim erzählte sie in der Christuskirche von ihren Erfahrungen, die sie in einem Buch verarbeitet hat. 14 Menschen schildern darin ihre Schicksale, ergänzt durch Anmerkungen ihres Co-Autors, des Psychologen Emir Ben Naoua.

Nach dem Tod ihrer Eltern stand Christina Erdkönig mit ihren beiden Schwestern vor der Aufgabe, das Reihenhaus in Sindelfingen auszuräumen. „Das ist ein enorm schwieriger Prozess, denn man stößt ständig auf sehr persönliche Gegenstände wie die Lesebrille der Mutter, oder die Zahnbürste des Vaters“, weiß sie. Vor allem aber ist das Räumen eine Reise in die Kindheit. Diese Reise hat die Autorin gemeinsam mit ihren beiden Schwestern unternommen - und auch hier erfahren, dass jeder Mensch anders reagiert.

Selbst Geschwister ticken unterschiedlich und vor allem unterschiedlich schnell, hat sie festgestellt. Daraus ergibt sich ihr wichtigster Ratschlag für die coronabedingt kleine Zuhörerschar in Kirchheim, die überwiegend aus Angehörigen der Generation Ü 50 bestand: „Nehmen Sie sich Zeit.“ Zumindest dann, wenn es die finanzielle Situation zulasse, empfehle es sich nicht, sofort und überstürzt zu handeln. Allerdings: „Mehr als ein Jahr mit dem Ausräumen zu verbringen, ist meist unrealistisch“, hat sie selbst erfahren. Schließlich hat man ja auch noch ein anderes Leben, dem man sich wieder widmen muss und will. Dennoch rät sie zu Achtsamkeit: Ein paar Monate benötigt die Entscheidung durchaus, was mit der Wohnung oder dem Haus der verstorbenen Eltern und all ihren Dingen passieren soll.

Wichtig ist zunächst die schlichte Frage: Wohin mit all den Dingen? Natürlich kann man nicht alles behalten. Die wenigsten Menschen, die Christina Erdkönig kennengelernt hat, haben einfach einem Entrümpler den Schlüssel in die Hand gegeben, und das Thema war abgehakt. Es gibt sogar einige wie Rolf, der im Buch zu Wort kommt. Er hat ganze 100 Tage lang mit seiner Frau dem Ausräumen gewidmet, und das ganz bewusst.

Das ist alles nicht die Norm. Dennoch will Christina Erdkönig Mut machen, sich auf das bewusste Loslassen in Verbindung mit dem Aufräumen einzulassen, Trauerarbeit zu leisten, und so die eine oder andere Erinnerung zu bewahren. Ein Wechselbad der Gefühle bedeutet es auch, wenn ein Elternteil noch lebt, etwa im Pflegeheim. Das Elternhaus muss oft schon verkauft werden, sei es aus finanziellen Gründen oder weil sich niemand darum kümmern kann. „Es ist viel wert, wenn sich Menschen mit ihrem eigenen Tod befassen und gezielt etwas hergeben“, bilanziert Christina Erdkönig, weiß aber auch, dass das selten vorkommt. Beispielsweise war dies der Fall bei Claudias Vater, der bis ins Detail aufgelistet hatte, wer was bekommen sollte, sogar das Service für die Nachbarin. Sobald man sich näher mit den persönlichen Dingen der Verstorbenen befasst, kommen Prozesse in Gang, die sich auch auf die Beziehung der Geschwister auswirken oder die Eltern in anderem Licht erscheinen lassen. So fanden die Schwestern unter anderem einen Leitz-Ordner, in dem der Vater fein säuberlich Briefe einer Rosemarie aus der Zeit vor seiner Ehe abgelegt hatte. Ein anderer Ordner enthielt Bewerbungen für Stellen im Heimatland des Vaters, Österreich. Über derlei Pläne waren die Töchter nicht informiert gewesen. Andere Nachkommen haben auch schon die Tagebücher ihrer Eltern gefunden. „Hier stellt sich dann auch die Frage nach der Privatsphäre des Verstorbenen“, deutet Christina Erdkönig Überlegungen an, die auf solch einen Fund folgen. Die Auseinandersetzung im Geschwisterkreis wiederum führt nicht selten zu einer neuen Qualität der Beziehung. Die Autorin macht Mut: „Räumen ist eine Art von Therapie.“