Kirchheim

So manche Behandlung ist eine Ochsentour

Politik Das Gesundheitswesen ist gut und teuer. Fachleute fordern, Behandlungen verstärkt zu hinterfragen, denn sie nutzen nicht immer. Von Irene Strifler

Kleiner Pieks, große Wirkung: Was für die Gesundheit gut sein mag, gilt noch lange nicht fürs Gesundheitswesen. Über Qualität un
Kleiner Pieks, große Wirkung: Was für die Gesundheit gut sein mag, gilt noch lange nicht fürs Gesundheitswesen. Über Qualität und Kosten diskutierten hochkarätige Fachleute vor und mit interessiertem Publikum in der Kirchheimer Stadthalle.Fotos: Jean-Luc Jacques

Das deutsche Gesundheitswesen muss auf den Prüfstand. Dieser Aufgabe widmete sich ein hochkarätig besetztes Publikum in der Kirchheimer Stadthalle. Der Einladung des CDU-Bundestagsabgeordneten und Gesundheitsexperten Michael Hennrich sowie des Vorsitzenden der Mittelstandsvereinigung, Fanz Pfeffer, folgten viele Interessierte. Sie erhielten wegweisende Impulse und erlebten einen munteren Schlagabtausch.

Gleich zu Beginn zerstörte Hauptredner Professor Josef Hecken, seines Zeichens Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses in Berlin, die Illusion, dass früher alles besser gewesen sei: „Wir leben länger als unsere Großeltern, wir sterben nicht mehr an Blinddarmentzündungen, wir fahren mit 75 noch an den Comer See“, argumentierte er und setzte noch eins drauf: „Und trotzdem beklagen wir uns ständig über ein unzulängliches System!“

Deutsches Gesundheitssystem: Das beste überhaupt?

Doch auch wenn das deutsche Gesundheitssystem das beste überhaupt sein dürfte, räumte der Fachmann große Baustellen ein. Besonders eindrucksvoll waren seine Aussagen zum medizinischen Fortschritt, der doch manchmal nur ein Pseudo-Fortschritt sei. Immer mehr Krankheiten würden behandelt ohne Heilung und ohne Verbesserung der Lebenssituation. Beispielhaft nannte Hecken Therapien bei Hautkrebs, die teilweise zwar das Leben einige Monate verlängerten, ohne jedoch die Lebensqualität zu berücksichtigen. Übelste Nebenwirkungen überschatteten die letzten Lebenswochen. „Wir brauchen einen Filter für die eigene Entscheidung des Patienten“, forderte Hecken und stellte die Theorie auf, mit reiner Palliativversorgung, also im Wesentlichen Beschwerdelinderung, könne man manchmal besser und auch nicht kürzer leben als mit maximaler medizinischer Versorgung. Manche Behandlung sei letztlich nichts als eine Ochsentour. Er zeigte Verständnis für die paradoxe Situation, dass sich die Bevölkerung via Patientenverfügung im Grunde genommen ja auch gegen die Segnungen der modernen Medizin wehre.

Was die Kosten anbelangt, listete Hecken auf, dass die Gruppe der über 84-Jährigen 500 Prozent über den jährlichen Durchschnittsausgaben für die Gesundheit liegt. Die Gruppe der 30- bis 64-Jährigen wiederum bleibt knapp unterm Durchschnitt. Dies ist jedoch die Gruppe, über deren Einkommen die Kassen finanziert werden - ein Modell, das sich angesichts wachsender Rentnerzahlen und weniger Erwerbstätiger vielleicht nicht mehr allzu lange halten lässt. Eine bessere Lösung hatte allerdings niemand parat.

Mehr hinterfragen

Hinterfragen müsse man auch die Häufung mancher Eingriffe in Deutschland. So werden in Deutschland dreimal so viele Herzkathetereingriffe durchgeführt wie in Frankreich. „Wir sind auch bei der Knieendoprothetik Weltmeister“, gab Hecken zu bedenken und verwies schmunzelnd darauf, dass dieser Titel doch eher der Schweiz gebühre, wo die Knie mehr Hügel meistern müssten.

Das System der AOK Baden-Württemberg und weiterer Kassen hier lobte der gebürtige Rheinländer Hecken ausdrücklich. Hier werde man den unterschiedlichen Verhältnissen auf Stadt und Land mit individuellen Verträgen weitgehend gerecht. Tatsächlich könne man nicht von Berlin aus Pauschalregelungen für die unterschiedlichsten Regionen treffen. Mut zu individuellen Regelungen sei daher dringend erforderlich.

Gastgeber Michael Hennrich (rechts), CDU-Bundestagsabgeordneter und Gesundheitsexperte, im Gespräch mit Professor Josef Hecken,
Gastgeber Michael Hennrich (rechts), CDU-Bundestagsabgeordneter und Gesundheitsexperte, im Gespräch mit Professor Josef Hecken, Vorsitzender im Gemeinsamen Bundesauschuss.