Kirchheim
Sozialkritischer Vertrag: Wer ist denn dieses „Wir“?

Gerechtigkeit Wer das Klima schützen will, muss laut Franz Segbers zugleich Armut und Hunger überwinden und soziale Gleichheit fördern. Von Peter Dietrich

Dass wir Energieverbrauch und Emissionen senken müssen, ist überall zu hören. Doch wer ist dieses „Wir“, wie verteilt sich die Aufgabe? Dazu hatte der Sozialethiker Franz Segbers, Professor an der Universität Marburg, viel erhellendes Zahlenmaterial in die Auferstehungskirche mitgebracht. Eingeladen hatten ihn das Evangelische Bildungswerk, die Evangelische Stadtkirchengemeinde und die Vesperkirche Kirchheim.

Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft? Franz Segbers schloss sich dem Kölner Professor Christoph Butterwegge an, der von einer „Paternostergesellschaft“ spricht: Für die einen geht es runter, für die anderen geht es rauf. Wie die zuvor schon Reichen auch während der Corona-Krise noch reicher wurden, belegte Segbers mit Zahlen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Hans-Böckler-Stiftung. Leider sei der deutsche Reichtum weniger gut erforscht als die Armut – besitzen die reichsten zehn Prozent nun 56 Prozent oder bereits 67 Prozent des Gesamtvermögens.

Ein deutscher Durchschnittsbürger, so Franz Segbers, verbrauche im Jahr eine Energie von 87 Gigajoule. Am oberen Ende der Einkommensskala sind es 400 Gigajoule – teils eine Folge von mehreren Immobilien, Pools, SUV und vielen Flugreisen. Würde sich das wohlhabendste deutsche Zehntel so verhalten wie der Durchschnitt, würde der Gesamtenergieverbrauch um 26 Prozent sinken.

Das bedeute nicht, betonte der Professor, dass sich alle anderen zurücklehnen könnten. Denn Deutschland sei im Weltmaßstab reich. Doch seit vielen Jahren steige die Armutsquote, sie liege nun bei 16,9 Prozent. Bei einem Single liege die Armutsschwelle bei 1035 Euro und bei einem Paar mit zwei Kindern bis 14 bei 2174 Euro im Monat. Der Rekordandrang in den Tafelläden und bei den Vesperkirchen spiegle den Anstieg wider, beim Bürgergeld seien laut Berechnungen der Diakonie statt 502 Euro eher um die 730 Euro nötig.

Neben der Lohnentwicklung liege der Schlüssel im Steuersystem. Wenn Reiche ordentlich Steuer zahlen müssten – wie es manche Reiche in der Initiative „Tax me now“ sogar selbst forderten – und deshalb weniger mit dem Privatjet um die Welt reisen, fördere das die Klimagerechtigkeit. Die Steuereinnahmen könnten zur Verringerung der Ungleichheit und für Klimamaßnahmen verwendet werden. Eine progressive Besteuerung wirke auch der Machtungleichheit entgegen. Umweltprobleme seien nie sozial neutral: Vermögende seien die Hauptverursacher, Ärmere litten am meisten unter den Folgen. Die Ressourcenverschwendung könne nur durch eine egalitärere Verteilung des Vermögens beendet werden: „Die soziale Spaltung ist eine Klimafrage.“

Stiegen mit dem verfügbaren Einkommen der bisher Armen deren Emissionen? Das hängt davon ab, für was das Geld ausgegeben wird, das muss im nächsten Schritt diskutiert werden. Reicht es statt für ein Billigmodell für den energiesparenden und langlebigen Kühlschrank oder für eine besser isolierte Wohnung, steigt die Lebensqualität, während die Emissionen sinken. Aber Effizienz muss sich ein Mensch zuerst leis­ten können.

Stiftungswesen statt Steuern? Diesem Gedanken eines Zuhörers erteilte Franz Segbers eine klare Absage. Es sei besser, wenn ein Parlament über die Verwendung von Geld entscheide, als wenn dies eine Stiftung nach eigenem Interesse tue. Er warb für die weltweite Zachäus-Kampagne für Steuergerechtigkeit, die von 35 kirchlichen Organisationen getragen werde. „Ein globaler Mindeststeuersatz wie jetzt von 15 Prozent ist gut, aber zu niedrig.“

Im nötigen Einsatz gegen die immer krassere „Paternoster­gesellschaft“ waren sich die Zuhörer einig. Die entscheidende Frage dazu stellte aber einer von ihnen: „Wie kriegen wir die politischen Mehrheiten dafür?“