Kirchheim
Sterben kann man lernen

Leben Wie kann ich mich auf meinen Tod vorbereiten? Das wollten über 100 Menschen in der Auferstehungskirche von SZ-Journalist und Buchautor Felix Hütten wissen. Der Teckbote hat ihn vorab interviewt. Von Antje Dörr

  

Herr Hütten, Ihr Vortrag heute Abend ist ein echter Publikumsmagnet. Normalerweise scheint es so, als hätten viele Menschen wenig Lust, sich mit dem Sterben zu beschäftigen ...

Felix Hütten: Ich glaube, dass das Thema Sterben, Tod und die eigene Vergänglichkeit Angst macht. Es ist ein normaler Abwehrreflex von den allermeisten Menschen, zu sagen: Damit möchte ich mich eigentlich nicht beschäftigen. Ich habe das als Reaktion auf mein Buch ganz oft gehört, dass Leute gesagt haben: Super interessant, aber kaufen will ich's mir eigentlich nicht. Und zwar nicht, weil ich dich oder das Buch blöd finde, sondern weil ich gar nicht eintauchen will in dieses Thema. Was eigentlich schade ist, denn ich glaube, man kann viel fürs Leben lernen, wenn man übers Sterben etwas lernt. Auch als junger Mensch.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Sterben lernen“, dass Tod früher zum Leben dazu gehört hat, wie die Geburt. Wie ist das heute?

Hütten: Da gibt es keine allgemeine Formel, aber mein Eindruck ist schon, dass das Sterben durch die Instagramisierung unserer Gesellschaft, dadurch, dass alles shiny und perfekt sein muss, keinen Platz mehr hat. Mein Gefühl ist, dass das Thema in vielen Familien klein gehalten wird. Dass man sagt, jetzt ist der Opa tot, jetzt machen wir schnell die Beerdigung, zackzack, und vorbei.

Man schaut sich den Menschen gar nicht mehr an …

Hütten: Ja, genau. Es ist ganz oft so, dass die Verstorbenen direkt ins Krematorium gehen. Je, nachdem, wie man gestorben ist. Aber dass jemand aufgebahrt wird und die Großfamilie kommt, um Abschied zu nehmen, das kenne ich nicht. Haben Sie das schon mal erlebt, dass jemand in der Kirche aufgebahrt wurde?

In der Kirche nicht, aber dass man den Verstorbenen beim Bestatter nochmal angucken durfte, schon. Aber selbst das traut sich nicht jeder ...

Hütten: Ich will das auch gar nicht bewerten, das muss jeder selbst entscheiden. Als mein Vater in Berlin gestorben ist, und ich war in München, habe ich darauf gedrängt, dass wir ihn nochmal sehen dürfen. Dann hat der Bestatter das so organisiert, dass wir nochmal hin konnten, aber das war schon ein Aufwand. Wenn wir aber nicht aktiv nachgefragt hätten, wäre das nicht passiert.

Sie behaupten, dass Wissen über das Sterben das Sterben einfacher macht. Was sollte jeder Mensch darüber wissen?

Hütten: Ich glaube, es geht darum, zu wissen, was körperlich beim Sterben passiert. Darauf gehe ich in meinem Buch ausführlich ein. Der erste Leichnam deines Lebens, den vergisst du nicht mehr. Auf diesen Moment des Erschreckens kann man sich vorbereiten, wenn man sich für das Thema öffnet. Im Kern geht es um die Frage: Bin ich bereit, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen? Und zwar nicht erst, wenn ich 85 bin, sondern auch schon, wenn ich 35 bin und zwei Kinder habe. Vielleicht überrollt mich ja morgen ein Bus? Wenn man bereit ist, sich diesem Thema zu öffnen, kann man sich Gedanken darüber machen, was man seiner Nachwelt hinterlassen möchte: ein Chaos ungeordneter Unterlagen oder ein sauber verfasstes Testament. Wenn man die Menschen um sich herum liebt, tut man ihnen einen großen Gefallen damit, wenn man sich mit diesen Fragen befasst. Ganz viele Menschen stecken da einfach den Kopf in den Sand. Es geht auch um die Frage, was man sich am Lebensende wünscht. Bei so vielen Schicksalen, bei denen Patienten im Krankenhaus zwischen Leben und Tod stehen, ist gar nicht klar, was der Mensch sich wünscht. Es ist sinnvoll, diese Wünsche zu Lebzeiten zu äußern.

Viele Menschen versuchen, möglichst gesund zu leben. Nicht rauchen, nicht trinken, gesunde Ernährung, Sport, etc. Ist dieser Versuch, den Tod hinauszuzögern, eine gute Idee?

Hütten: Gesund leben ist immer gut, aber es ist auch gut, zu leben. In dem Moment, in dem man sich zu stark einschränkt, um lange zu leben, lebt man nicht mehr wirklich. Die Lebensqualität spielt ja auch eine Rolle. Man könnte darüber diskutieren, was ein gutes Leben ist: Dass man 100 geworden ist, oder nur 70, dafür aber viel Freude hatte. Das soll jetzt aber kein Plädoyer für exzessives Rauchen und Trinken sein (lacht).

Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass vielen, gerade älteren Menschen der Tod unnötig schwer gemacht wird. Können Sie ein Beispiel nennen?

Hütten: Die Medizin kann Menschen über eine lange Zeit sehr effizient am Leben halten. Wenn nicht klar ist, was der Mensch wollte, versucht die Medizin alles zu machen, was möglich ist. Aber nicht alles, was möglich ist, ist auch unbedingt gut.

Was ist die Alternative?

Hütten: Die Alternative ist, ehrlich zu sich selbst zu sein und sich darüber klar zu werden, was für einen selbst ein lebenswertes Leben bedeutet.

Und diesen Willen dann schriftlich zu äußern?

Hütten: Im Idealfall ja. In einer Patientenverfügung oder in einer Vollmacht. Es gibt kein Richtig und kein Falsch bei der Frage, was ein lebenswertes Leben ist. Mein Anliegen ist nur, dass man sich Gedanken darüber macht, was es für einen selbst bedeutet. Und dass man es dann mit seinen Angehörigen bespricht. Eine Vollmacht ohne Kommunikation bringt nichts, weil im Zweifelsfall keiner weiß, dass es eine Vollmacht gibt.

Wie ist Ihre Haltung zu Sterbehilfe?

Hütten: Die These, die ich in meinem Buch aufstelle, lautet: Ja zur Sterbehilfe. Was ich aber eigentlich sagen möchte, ist, dass in der politischen Debatte zum Thema Sterbehilfe die Begriffe völlig durcheinandergehen. Wenn ein Begriff mit ganz vielen unterschiedlichen Dingen beladen ist, dann kann die politische Debatte darüber gar nicht zielführend sein. Ich spiele während meines Vortrags oft ein Spiel, und dabei kommt meistens heraus, dass jeder etwas anderes darunter versteht. Ich beziehe in meinem Buch keine Position zur Sterbehilfe. Ich finde, man kann dafür sein oder dagegen, aber man muss wissen, über was man redet.

Aber Sie sind schon der Meinung, dass man alte Menschen, die im Sterben liegen, gehen lassen darf, anstatt sie künstlich am Leben zu halten.

Hütten: Ja, aber das ist keine Sterbehilfe im Sinne von Paragraph 217 Strafgesetzbuch, sondern gute Medizin.

 

 

Zum Autor

Felix Hütten ist Journalist und Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Nach einer Ausbildung zum Rettungssanitäter studierte er in Dresden Medizin. Nach erfolgreichem ersten Staatsexamen folgte ein Studium der Politikwissenschaft mit Schwerpunkt „Global Health“ in Berlin und Lyon. Im Anschluss absolvierte Hütten eine Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München. 2019 ist im Hanser-Verlag „Sterben lernen – Das Buch für den Abschied“ erschienen. 

Der Vortrag in der Auferstehungskirche fand pandemiebedingt mit zwei Jahren Verspätung statt. Veranstalter waren das Evangelische Bildungswerk im Landkreis Esslingen, die Evangelische Stadtkirchengemeinde Kirchheim, die Arbeitsgemeinschaft Hospiz sowie die Buchhandlung Zimmermann. adö