Kirchheim
Streikende von Ver.di: „Das soll Wertschätzung sein?“

Streik Die Bediensteten im öffentlichen Dienst fordern auf dem Esslinger Marktplatz eine kräftige Lohnerhöhung. Nach warmen Worten in der Corona-Krise soll es nun spürbare finanzielle Verbesserungen geben. Von Thomas Zapp

John Lennons „Working Class Hero“ schallt live über den Esslinger Marktplatz und bietet akustische Abwechslung zu den obligatorischen Pfeifen, Tröten und Klatschpappen der Streikenden. Die Gewerkschaft Ver.di Fils-Neckar-Alb hat zum Warnstreik aufgerufen: 500, 10,5 und 200 lauten die Kennzahlen, ein Lohnplus von 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr für Angestellte im öffentlichen Dienst sowie 200 plus für Azubis.

Über die Resonanz auf dem Esslinger Marktplatz freut sich auch der Gewerkschaftssekretär für die Fils-Neckar-Alb-Region, Benjamin Stein: „Wir haben mit 800 gerechnet, jetzt sind es rund 1800.“ Von Angestellten der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen über die Diakonie bis zu städtischen Angestellten aus Esslingen, Eislingen und Kirchheim und den Krankenhäusern im Kreis.

Erzieherinnen und Erzieher machen sich am lautstärksten bemerkbar, als Christian Miska, Bundes-Sparkassen-Sekretär von Ver.di, nach einem schmissigen „Seeer-vus“ und einem „Schön, dass ihr alle wach seid“ die Teilnehmergruppen aufruft und so etwas wie Festivalstimmung auf dem Marktplatz aufkommen lässt. „So groß war der Zulauf zu Warnstreiks noch nie“, staunt er.

Ob in Gelbwesten, Rotwesten oder in Zivil: Sie alle sind gekommen, um gegen die „leeren Worte“ aus der Corona-Zeit zu protestieren, als besonders Erzieherinnen und Erzieher sowie Pflegerinnen und Pfleger als systemrelevant gelobt wurden, aber eine spürbare Verbesserung in Form von Geld nicht bekamen. Das Argument eines sicheren Arbeitsplatzes bekomme sie immer wieder zu hören, sagt Astrid Kappel, Ver.di-Vertrauensperson bei der Stadt Esslingen, auf der Rednerbühne. „Sicher ist er, aber wir können ihn uns nicht leisten“, ruft sie. Das Arbeitgeberangebot von drei bis fünf Prozent und 2500 Euro Einmalzahlung empfindet Christian Miska, der an den Verhandlungsrunden in Potsdam teilnimmt, als Frechheit. „Das soll Wertschätzung sein? Das ist Mist“, ruft er aus.

Auch eine Gruppe Erzieherinnen sowie zwei Schulbetreuerinnen aus Kirchheim sind gekommen. „Ich rüste Kinder für die Zukunft. Meine heißt Altersarmut“, hat eine auf ihr Schild geschrieben. Sie beklagt den Betreuungsschlüssel in der Schulbetreuung und dass es keine Vollzeitstellen gibt, trotz dem seit diesem Jahr geltenden gesetzlichen Anspruch auf Ganztagsbetreuung. Zu bestimmten Zeiten gebe es auch keine Räume für die Betreuung, dann hält man sich draußen auf. Insgesamt gebe es kein schlüssiges Gesamtkonzept, dafür gestückelte Arbeitszeiten. „Drei Mal am Tag anderthalb Stunden, da finden Sie mal Leute“, sagt sie.

Erzieherinnen aus Kirchheim

Im Gespräch wird klar: Es geht nicht nur ums Geld, es geht um Wertschätzung und Anerkennung ihrer Arbeit. „Es geht um mehr als Schuhe zubinden“, sagt die Erzieherin einer Kirchheimer Kita, die mit drei Kolleginnen gekommen ist. Ihren Namen möchte keine in der Zeitung lesen, die Stimmung scheint angespannt zu sein. Es kommen keine qualifizierten Arbeitskräfte nach, sagt die Erzieherin, die seit mehr als 30 Jahren in ihrem Beruf arbeitet und ihn als zunehmend schwierig empfindet. Der Betreuungsaufwand werde bei einzelnen Kindern zunehmend größer, sei es wegen Sprachstörungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Sprachkenntnissen: „Es gibt immer mehr Kinder mit speziellen Anforderungen“, sagt sie. Sie kann das aber nicht leis­ten, ohne andere Kinder zu vernachlässigen. Statt stundenweise Begleitung wünscht sie sich eine Senkung des Betreuungsschlüssels. „Ich kann mir nicht vorstellen, bis 67 zu arbeiten“, sagt ihre Kollegin. Es ärgert sie, wenn Quereinsteiger ein Aufbauseminar machen und dann eine Leitung übernehmen. „Vier Jahre Ausbildung zur Erzieherin macht man ja nicht umsonst“, sagt sie. Wenn die Babyboomer wie sie aufhörten – was komme dann? Eine gute Bildung schon in der Kita sei für eine Gesellschaft essenziell. „Das muss es Deutschland wert sein.“

Am Montag, 27. März, wird Ver.di den Druck erhöhen: Der kommunale Nahverkehr, alle Flughäfen, die Deutsche Bahn, Schiffsrouten, Großtunnel und Schleusen werden bestreikt. „Wenn ihr verreisen wollt, bucht um“, rät Benjamin Stein. Und ein Streikender auf dem Marktplatz sagt spontan: „Gut, dass ich am Montag frei habe.“