Kirchheim

Toast Hawaii und Ede Zimmermann

Autorenlesung Rainer Moritz liest im Kirchheimer Max-Eyth-Haus aus seinem Werk „Wirtschaftswunderkind“. Darin geht es um die Jugend des Autors in Heilbronn während der Wirtschaftswunderzeit. Von Ulrich Staehle

Dr. Rainer MoritzEurope, Germany, Hamburg 2007
Dr. Rainer MoritzEurope, Germany, Hamburg 2007

Woher wissen Sie, wie es bei uns zu Hause zuging?“ Rainer Moritz erzählte einleitend, dass ihm diese Frage eine Zuhörerin nach einer Lesung gestellt habe. Im Grunde handelt es sich nicht um eine Frage, sondern um eine Feststellung: Rainer Moritz ist mit seinem autobiografischen Werk sein Vorhaben gelungen. Es sei ihm nicht darum gegangen, eine Autobiografie à la Boris Becker oder Thomas Gottschalk zu schreiben, sondern „Facetten einer Zeit mit ihren verschiedenen Ebenen“. Der Autor hat sich entschieden, die Perspektive des jugendlichen „Helden“ beizubehalten, der beispielsweise Rainer Barzel gegenüber Willy Brandt vorgezogen hat. Der erwachsene Moritz hat heute eine andere Position.

Der heutige Rainer Moritz ist Leiter des Literaturhauses Hamburg. Die Stadt hat ihn soeben mit dem Professorentitel ausgestattet. Er wuchs in Heilbronn auf, studierte in Tübingen Romanistik, Philosophie und Germanistik, promovierte, war Programmchef bei ­Reclam Leipzig und Hofmann und Campe. Er ist als Kritiker und Autor ein gewichtiger Bestandteil der Literaturszene. Sein neuestes Werk befasst sich mit den „Helden des Südens“. Kennzeichnend ist für ihn, dass er auch Themen wie Fußball und Schlager literaturfähig machte.

Dem Literaturbeirat der Stadt Kirchheim ist es gelungen, diesen literarischen Hochkaräter ins Max-Eyth-Haus zu locken, nicht zuletzt weil er, so verriet Moritz, als Student in den Achtzigerjahren von Tübingen nach Kirchheim gefahren ist, um mit Kursen über zeitgenössische Literatur in der Volkshochschule sein Studium finanzieren zu können.

Sein „Wirtschaftswunderkind“ ist 2008 in einer gebundenen Ausgabe erschienen und fand einen solchen Absatz, dass 2015 eine Taschenbuchausgabe aufgelegt wurde. Er beschreibt darin seine Lebensverhältnisse, in denen er aufgewachsen ist, von den Sechzigerjahren bis 1978, dem Beginn des Studiums. Das Problem der Vielschichtigkeit bewältigt der Autor dadurch, dass er dem Leser kleine Lesehappen verabreicht, mit wechselnden Themen, die sich schließlich zu einem „Gesamtmenü“ zusammenfügen. Moritz vermeidet dadurch eine Ermüdung des Lesers. Dieser kann sich seine Leseportion selbst heraussuchen, ohne den Zusammenhang zu verlieren.

Das Hauptthema ist das Heran­wachsen eines Jungen in einer Mittelschichtsfamilie in Heilbronn, einer Stadt mittlerer Größe – wie Kirchheim – zur Wirtschaftswunderzeit. Es wird berichtet, wie die fünfköpfige Familie funktioniert hat, was man gegessen, gelesen, bewundert hat, welche Fernsehsendungen, welche Filme man sich angeschaut hat, wie man die Freizeit, wie den Urlaub verbracht hat. Wie war die politische Einstellung? Und wichtig für einen jungen Menschen: wie ging man mit der ersten Liebe und dem Problem Sex um?

Für seine Lesung wählte Moritz als Schwerpunkt das, was den Alltag seines „Helden“ unmittelbar angeht: die Zusammensetzung der Familie, die Schule, die Urlaube. Als roten Faden verfolgte der Autor die erwachende Erotik seines Helden, weil es altersgemäß ist und weil er weiß, so gibt er augenzwinkernd zu: sex sells. Den Zuhörern wurde bewusst, dass Jugendliche mit dem Thema Sex heute anders umgehen.

Das klingt alles sehr ernst und belehrend. Gerade das Gegenteil fand bei der Lesung von Rainer Moritz statt. Es wurde selten im Max-Eyth-Haus so viel gelacht. Das zahlreich erschienene Publikum freute sich über das Wiedererkennen der eigenen Vergangenheit, die vom Autor authentisch, aber mit humorvollem Verständnis in Erinnerung gerufen wurde. Moritz vermag sofort eine persönliche Verbindung zum Publikum zu schaffen. Er flicht Erläuterungen und Ergänzungen ein. So erzählt er bei Gelegenheit, dass und wie seine 85-jährige Mutter immer noch Auto fährt. Moritz liest auffallend laut – er führt das darauf zurück, dass er als langjähriger Schiedsrichter bei Fußballspielen gelernt hat, sich Gehör zu verschaffen – und er hat die Fähigkeit, beim Lesen Pointen herauszuarbeiten. Wer nicht da war, hat etwas versäumt.Foto: pr

Erinnerungen, die Rainer Moritz wachgerufen hat

Familie: Vater ist der Ernährer und fährt das Auto. Doch Veränderungen zeichnen sich ab. Mutter macht heimlich den Führerschein und arbeitet wieder, als die Kinder aus dem Haus sind. – An Weihnachten muss man vor der Bescherung in die Kirche gehen und zu Hause noch Lieder singen. Essen: Durfte nicht zu kostspielig, sollte aber sättigend sein. Fleischwurst war geeignet und Schmelzkäse (Velveta), der Hawaii-Toast trat seinen Siegeszug an. Pizza kündigte sich an. Urlaub: Vater bestimmt. Alle gehen in den Wanderurlaub. Schule: Der Lehrer kontrollierte noch Fingernägel und Frisur. Sex: Aufklärung erfolgte ziemlich spät durch Aufklärungsbücher. Seine Sehnsüchte galten Filmidolen. Erste Berührung mit dem anderen Geschlecht in der sterilen Tanzstunde. Im Film „Der letzte Tango in Paris“, den er sich verbotener Weise ansieht, erfährt der Junge, dass es auch Sex ohne Ehe und Liebe gibt. Fernsehen: Kulenkampff, der Grand Prix d’Eurovision de la Chanson und Ede Zimmermann vereinigte die Familie.ust