Kirchheim

Überall Knoten: Ist das Kunst?

Kultur Der Brite Alex Chinneck testet die Wahrnehmung der Besucher im Kirchheimer Kornhaus: Zwei seiner Werke sind offensichtlich, dann braucht es Feingefühl. Von Kai Bauer

Die erste Stufe der Wahrnehmung: Den riesigen Knoten im Raum kann man nicht übersehen.
Die erste Stufe der Wahrnehmung: Den riesigen Knoten im Raum kann man nicht übersehen.

Mit Alex Chinneck ist es dem Kunstbeirat der Stadt Kirchheim gelungen, einen jungen britischen Künstler, der bereits internationale Bekanntheit erreicht hat, in die Städtische Galerie zu holen. Die Ausstellung „Knots“ („Knoten“) im Kornhaus ist seine erste Einzelausstellung in Deutschland. Das erklärte Florian van het Hekke, der als Mitglied des Kunstbeirats die Ausstellung kuratiert hat, bei der Eröffnung am Sonntag.

Alex Chinneck ist weniger durch Feuilletons und Magazine des herkömmlichen Kunstbetriebs, sondern vor allem durch Publikationen im Netz bekannt geworden. Ausschlaggebend war die Präsentation seiner Werke bei „We Transfer“, einem digitalen Online-Format, über das man Gigabytes von Bilddateien um die ganze Welt senden kann. Mit digitalen Wallpapers sponsert der niederländische Filehosting-Anbieter Künstler, die dem Unternehmen gefallen und ermöglicht ihnen dadurch den Zugang zu einem millionenfachen Publikum in mehr als 35 Ländern. Neben seinem globalen Erfolg als „viraler Künstler“, gehört Alex Chinneck, geboren 1984 in London, inzwischen zu den wichtigen Vertretern der zeitgenössischen britischen Bildhauerei.

Im Kornhaus nutzt der Künstler den Ausstellungsraum für eine Reihe verblüffender Interventionen. Hier werden nicht mehr Kunstwerke an den Wänden und auf Sockeln gezeigt: Alex Chinneck verformt die Architektur des Raums selbst - auf humorvolle, geistreiche und überaus entschlossene Art und Weise. Eigentlich sind es fünf Eingriffe, mit denen er die Wahrnehmungsfähigkeit des Besuchers auf die Probe stellt.

Die erste Arbeit ist so unübersehbar, dass sie wie ein effektvolles Comic-Zitat ins Auge fällt: Der riesige, titelgebende „Knot“ prangt fast zentral im Ausstellungsraum, als hätte ein Riese eine der wuchtigen Fachwerkstützen, die für das denkmalgeschützte Kornhaus so typisch sind, herausgenommen, in die Länge gezogen, verknotet und wieder eingesetzt. Chinneck gibt dieser Säule, die schwer an ihrem Gewicht trägt, einen eigenen Titel: „Birth, Death and Midlife Crisis“. Oberflächen und Farbe des Holzbalkens und dessen Betonsockel sind täuschend echt imitiert. Es wirkt, als wären die uns geläufigen digitalen Kino- und Computereffekte in die materielle Wirklichkeit zurückgeholt worden.

Nachdem der Besucher die handwerkliche Perfektion dieser ersten Arbeit bewundert hat, erreicht er die zweite Wahrnehmungsebene. Erst „auf den zweiten Blick“ erkennt man den kräftigen Besen, der wie zufällig abgestellt an der Wand lehnt. Beim näheren Betrachten ist er unschwer als weiteres Ausstellungsobjekt zu erkennen: Auch der Besenstiel aus wunderbar gemasertem Eschenholz wurde mit einem Knoten versehen. Dieser ist jedoch nicht hastig zusammengezogen, sondern wirkt sehr kontrolliert. Vor allem im Schattenwurf erinnert er an das schwäbische Nationalgebäck: Mit der doppelten Metapher von Kehrwoche und Brezel stellt der britische Künstler einen starken Lokalbezug her.

Als drittes Element entdeckt der Besucher zwei Darstellungen an der Wand: eine Zeichnung des Raums und eine Reihe von Fotografien, die ein Beamer an die Wand projiziert und die früheren Interventionen des Künstlers im Außenraum zeigen. Damit kehrt die Wahrnehmung zum gewohnten Ausstellungsformat zurück: Kunst als spezifische Darstellung von Wirklichkeit an der Wand. Die höchst komplexe und kultivierte Wahrnehmung, die erlernt werden musste, um eine Zeichnung und ein Foto überhaupt „lesen“ zu können, fällt möglicherweise jetzt erst auf. Beispielsweise muss der in der Fluchtpunktperspektive mit hohem Abstraktionsgrad codierte Raum auf der flächigen Darstellung erst aus der Vorstellung hinzugefügt werden. Damit ist jedoch erst die vorletzte Stufe erreicht.

Das fünfte und letzte Ausstellungsobjekt blieb für einen großen Teil der Besucher offensichtlich lange unerkannt. Vereinzelt wurde es durch vorsichtiges Klopfen entdeckt. Spätestens am Ende der Einführung der Kunstwissenschaftlerin Susanne Jakob war es jedoch auch entlarvt: eine völlig unauffällige Fachwerksäule hat Alex Chinneck mit technischer Perfektion in den Raum gemogelt. Damit ist die fünfte und letzte Wahrnehmungsstufe erreicht: Dieses Werk ist nicht mehr durch Anschauung, sondern nur durch Kommunikation zu erkennen. Um welche Säule es sich handelt, kann man bis zum 8. April selbst fest­stellen.

Typisch schwäbisch?! Besen und Brezel. Fotos: Markus Brändli
Typisch schwäbisch?! Besen und Brezel. Fotos: Markus Brändli