Kirchheim

Unterbringung bleibt Drahtseilakt

Sachliche Gespräche, aber auch Polemik bei kurzfristiger Bürgerinformation in Ötlingen

Das Thema „Anschlussunterbringung“ ist altbekannt in der Innenstadt, in Jesingen und Lindorf. Jetzt soll im Ötlinger Ginsterweg gebaut werden.

Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker und Ortsvorsteher Hermann Kik informierten die Ötlinger Bürgerschaft über geplante B
Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker und Ortsvorsteher Hermann Kik informierten die Ötlinger Bürgerschaft über geplante Baumaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge, die im nächsten Jahr in reguläre Wohnungen eingewiesen werden müssen.Foto: Andrea Barner

Kirchheim. Innerhalb von fünf Tagen hatte die Stadtverwaltung eine „Bürgerinformationsveranstaltung“ angesetzt. War das wirklich reine „Vergesslichkeit“ der Rathausmitarbeiter, wie Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker in einem Erklärungsversuch feststellte? Sie erntete dafür süffisantes Gelächter. Das Evangelische Gemeindehaus in der Hermann-Hesse-Straße platzte bei der Blitzversammlung am Freitagabend dennoch aus allen Nähten.

Die Stadt sucht fieberhaft nach weiteren Grundstücken, die so schnell wie möglich fit gemacht werden können für den Neubau von Wohnungen. Sie wurde unter anderem im nördlichen Randgebiet von Ötlingen fündig. Das Bauamt hat dort eine kleine Grünanlage mit 31 Parkplätzen ins Visier genommen und will diese Fläche per Bebauungsplanänderung schleunigst umwidmen. Später können dort zwei Häuser mit acht Wohnungen für 44 Personen gebaut werden.

Die Lage ist nach wie vor ernst. Nach derzeitigem Stand der Dinge muss Kirchheim bis 2017 geschätzte 680 Menschen aus den Sammelunterkünften des Landkreises in richtigen Wohnungen unterbringen. Selbst wenn die Flüchtlingszahlen momentan leicht rückläufig sind, gibt es für sie noch immer viel zu wenig Wohnraum. Noch gar nicht berücksichtigt sind Familienangehörige, die eventuell nachgeholt werden dürfen. „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat diese Zahlen schlicht und ergreifend nicht erhoben, wir wissen es einfach nicht“, klagt die Oberbürgermeisterin und rechnet mittelfristig mit mindestens 1 000 Personen.

Es gäbe laut Matt-Heidecker in Kirchheim nicht wie angenommen 700, sondern nur 455 „leer stehende“ Wohnungen. Diese seien aber häufig unbewohnbar oder von den Eigentümern für späteren Eigenbedarf vorgesehen. „Wir bringen trotz einer groß angelegten Aktion höchstens 30 bis 40 Personen in privaten Mietwohnungen unter“, so die Erkenntnis von Herbert Müller, beim Sozialamt zuständig für Flüchtlingsangelegenheiten. Etwa 30 von insgesamt 200 städtischen Wohnungen werden zurzeit saniert und können bis Jahresende bezogen werden. Alles in allem nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Einige der circa 150 Ötlinger hatten dennoch wenig Verständnis für die Stadtverwaltung, die momentan alle Register zieht, um erst mal planungsrechtliche Voraussetzungen für Neubauten in allen Stadtteilen zu schaffen. Die Stadt denkt mittlerweile in kleinen Einheiten von maximal je zwei Häusern, entweder zwei- oder dreigeschossig. Um die gleiche Anzahl von Personen dezentral unterzubringen, braucht man logischerweise mehr Standorte im gesamten Stadtgebiet. So auch die relativ kleine Fläche im Ötlinger Ginsterweg, weitere Überlegungen gibt es in Ötlingen für den Bereich Farrenstall und Uracher Straße.

Neben den Bürgern, die sachliche Fragen stellten, meldeten sich in Ötlingen auch wieder einige zu Wort, die grundsätzliche Probleme mit Menschen anderer Haut- oder Haarfarbe haben. Einer meinte, dass er seine Frau und seine Kinder „schützen“ müsse, dass sich vielleicht die Oberbürgermeisterin an Vorschriften zu halten habe, „wir“ (die Bürger) jedoch nicht. Da musste Angelika Matt-Heidecker ihm allerdings einen kleinen Grundkurs in Sachen Demokratie und Grundgesetz geben.

Andere Versammlungsteilnehmer fürchteten um den Wert ihrer Immobilie im Wohngebiet Tobel-Zoller-Halde. Sie meldeten auch Bedenken wegen der Verkehrssicherheit an und wegen der begrünten Pultdächer, die vielleicht nicht zur Umgebung passen. Ein heißes Eisen war auch der Familiennachzug und die leise Befürchtung, dass im Ginsterweg bald „Sodom und Gomorrha“ herrscht, wenn die neuen Wohnungen bald durch Angehörige überfüllt sein könnten.

Die Bebauungsplanänderung steht aktuell bereits auf der Tagesordnung des Kirchheimer Gemeinderats. Auf Anraten des Ortschaftsrats Ötlingen und des Technischen Ausschusses werden die Ratsmitglieder die Beschlussfassung jedoch vermutlich auf die Julisitzungsrunde vertagen.

Viele interessierte Ötlinger informierten sich über die Situation vor Ort. Nicht nur die Bäume, auch 31 Parkplätze im Ginsterweg
Viele interessierte Ötlinger informierten sich über die Situation vor Ort. Nicht nur die Bäume, auch 31 Parkplätze im Ginsterweg sollen dem Neubau von zwei Mehrfamilienhäusern für die Anschlussunterbringung von Flüchtlingen weichen. Foto: Andrea Barner

Spontane Bürgerinitiative

Viele interessierte Ötlinger informierten sich über die Situation vor Ort. Nicht nur die Bäume, auch 31 Parkplätze im Ginsterweg
Viele interessierte Ötlinger informierten sich über die Situation vor Ort. Nicht nur die Bäume, auch 31 Parkplätze im Ginsterweg sollen dem Neubau von zwei Mehrfamilienhäusern für die Anschlussunterbringung von Flüchtlingen weichen. Foto: Andrea Barner

Erst aus der Zeitung erfuhren die Anwohner rund um den Ötlinger Ginsterweg vom Bauvorhaben der Stadt. Sofort gründeten sie eine Bürgerinitiative.

Andrea Barner

Kirchheim. Wie ein Lauffeuer muss es durch das Wohngebiet Ginsterweg/Tulpenweg/Tobelstraße gegangen sein am Freitag, 10. Juni. Der angekündigten Tagesordnung des Ortschaftsrats war zu entnehmen, dass die Stadt in ihrem Bezirk den Bebauungsplan ändern und dort zwei Wohnhäuser bauen will. 31 Parkplätze fallen dabei weg, ein Ahornbaum und mehrere groß gewachsene Birken. Der Ginsterweg wird enger, womöglich kann auch am Straßenrand nicht mehr geparkt werden. Das sind schon echte Probleme für ein Wohngebiet, mal abgesehen davon, dass die Gebäude zur Anschlussunterbringung von Flüchtlingen dienen sollen.

Dann ging alles ganz schnell: Noch am gleichen Abend standen 15 diskussionsbereite Bürger bei der Fraktionssitzung der „ÖBI“ vor der Tür. Unmittelbar danach entwickelten sie einen 14-Punkte-Katalog mit Fragen an die Stadtverwaltung und den Ötlinger Ortschaftsrat. Der tagte am 13. Juni und hätte der Stadt eigentlich schon grünes Licht für die Bebauungsplanänderung geben sollen. Doch 62 Ötlinger besuchten diese Sitzung, das war beeindruckend. Der Ortschaftsrat setzte den Tagesordnungspunkt ab und bat den Gemeinderat einstimmig um Vertagung der Angelegenheit. Am nächsten Tag wurde die „Bürgerinitiative Ginsterweg“ gegründet.

Die Stadtverwaltung lud nun kurzfristig ein zu einer „Bürgerinformationsveranstaltung“ am darauffolgenden Freitag, 17. Juni. Eine Stunde vor Beginn dieser Versammlung trafen sich über 100 Interessierte bereits im Ginsterweg. Die Bürgerinitiative hatte die Größe des Grundstücks und die Fläche, auf der später die Häuser gebaut werden können, mit Kreidestrichen und Flatterband gekennzeichnet.

Was hat die Bürger im Wohngebiet und darüber hinaus so angestachelt? Stefan Kitzig, Sprecher der Bürgerinitiative: „Was uns am meisten aufregt, ist, dass die Bevölkerung im Vorfeld nicht wirklich einbezogen wurde.“ Zwar wird ständig über Flüchtlinge und Anschlussunterbringung gesprochen, das kleine Wohngebiet in Ötlingen stand bis dato aber noch nicht zur Debatte. Deshalb, so Stefan Kitzig, „sind wir empört über die Intransparenz der Vorgehensweise.“

Kitzig betont, dass es der Bürgerinitiative ausschließlich um den Erhalt der Grünfläche und der Parkplätze geht, nicht etwa um Fremdenfeindlichkeit. Warum der Ginsterweg allerdings als erstes Projekt in Ötlingen überplant wird und nicht andere Alternativen geprüft wurden, das interessiert die Anwohner schon. Tatsächlich wurden im Rathaus und im Ortschaftsrat mehrere Alternativen untersucht, und der Parkplatz am Ginsterweg erschien der Stadt am Geeignetsten. Deshalb will sie dort schleunigst die planungsrechtlichen Voraussetzungen für zwei Neubauten schaffen. Die Fragen der Bürgerinitiative konnten weitgehend bereits in der Infoveranstaltung geklärt werden. Die Oberbürgermeisterin sagte darüber hinaus noch eine schriftliche Beantwortung zu.

Die Grundstücksfläche am Ginsterweg hat die Stadt im Zuge einer Baulandumlegung bekommen, mutmaßlich mit der Auflage, dort eine Grünanlage mit Parkplätzen herzustellen. Ob jetzt so ohne Weiteres Häuser darauf gebaut werden können, wollte ein Anwohner von der Oberbürgermeisterin wissen. Diese Frage will Angelika Matt-Heidecker ebenfalls prüfen lassen.