Kirchheim
Verkehrswende: Grüne im Windschatten von Oranje

Radverkehr Das Stuttgarter Verkehrsministerium wirbt mit dem Bau von Radschnellwegen für ein Umdenken im Alltag. In den Niederlanden ist das Thema längst in den Köpfen, wie ein Blick über die Grenze zeigt. Von Bernd Köble
 

Auch einem grünen Verkehrsminister kann beim Thema Radverkehr schon mal der Kragen platzen. Dass ihm die ständigen Bremsmanöver stinken wie die dicke Luft im Stuttgarter Kessel, konnte Winfried Hermann am Montag kaum verbergen. Bei der Eröffnung des ersten Demostücks des Radschnellwegs bei Ebersbach wollte das grün-geführte Verkehrsressort Aufbruchstimmung vermitteln. Stattdessen musste der Minister Fragen zur Lage im Konflikt mit Anrainerkommunen beantworten, die das Vorzeigeprojekt durch Fils- und Neckartal seit Monaten blockieren. Plochingen legt sich bei der Durchfahrt im ehemaligen Landesgartenschaugelände quer, in Esslingen braucht es zwei zusätzliche Neckarquerungen, um das Stadtgebiet auf Sirnauer Seite zu umfahren. Das bedeutet jeweils nicht nur Abkehr von der Ideallinie, sondern letztlich auch mehr Zeit und Geld.

Wie viel Radikalität bei Systemwechseln darf man den Menschen zumuten? Mit dieser Frage tun sich in Kernthemen wie dem Verkehr seit jeher auch die Grünen schwer. Die Wissenschaft ist da längst weiter: Ohne radikalen Kurswechsel ist weder Klimawandel noch Kollaps auf deutschen Straßen zu stoppen. Von anderen lernen, darum ging es beim Erfahrungsaustausch in Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden, zu dem das Stuttgarter Verkehrsministerium Behördenvertreter, Landtagsabgeordnete und Kommunalpolitiker eingeladen hatte. Einen möglichst großen Teil des Autoverkehrs aufs Fahrrad zu verlagern, ist Ziel der grün-schwarzen Landesregierung und ihrer Radschnellweg-Offensive. Direkt, schnell, sicher – das sind die Argumente, mit denen man Pendler überzeugen will. Für Elke Zimmer, Staatssekretärin im grünen Verkehrsministerium, ist es Aufgabe der Politik, „neues Bewusstsein nach außen zu tragen.“

 

Das Fahrrad ist Teil der Lösung für zentrale Probleme des 21. Jahrhunderts.
Lot van Hooijdonck
Beigeordnete der Stadt Utrecht
 

Wichtigste Erkenntnis der Reise: Das Autoland Baden-Württemberg ist spät dran. Was jahrzehntelanger Vorsprung bedeutet, lässt sich an Utrecht ablesen. Die viertgrößte Stadt der Niederlande mit 360 000 Menschen befasst sich seit Beginn der Ölkrise in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts mit Alternativen zum Autoverkehr. Schon damals gingen in den Niederlanden die Menschen auf die Straße, weil sie Staus und Gestank in den Städten satt hatten. Heute ist Utrecht eine der fahrradfreundlichsten Kommunen weltweit. Hier gibt es mehr Fahrräder als Menschen, das größte Fahrrad-Parkhaus der Welt mit kostenlosen Stellplätzen und fünf Haupt-Radverkehrsachsen, die bis zu 45 Kilometer weit ins Umland reichen. Während deutsche Städte im Mittel zwei bis drei Euro pro Kopf und Jahr für den Radverkehr ausgeben, sind es in Utrecht 132. Dennoch erspart das Fahrrad einer Studie der dortigen Universität zufolge dem städtischen Haushalt jährlich 250 Millionen Euro an Kosten. Wo früher fünfspurige Stadtautobahnen das Zentrum durchkreuzten, fließt heute Wasser, flankiert von breiten Radlertrassen. Für Distanzen von weniger als 7,5 Kilometern benutzen mehr als 42 Prozent der Stadtbewohner das Rad. Ganz auf das Fahrrad verzichten lediglich vier Prozent der Haushalte.

Das Auto ist in Utrecht damit nur noch Gast, im benachbarten Houten, einer Stadt mit rund 50 000 Einwohnern ist es völlig aus dem Zentrum verbannt und auf Ringstraßen an der Peripherie verlagert. Selbst dort, wo Auto und Fahrrad aufeinandertreffen, herrscht friedliche Koexistenz. „Hinter jedem Lenkrad sitzt eben auch ein Radfahrer“, sagt Herbert Tiemens, Mobility-Advisor in der Stadtverwaltung. Für Lot van Hooijdonck, seit 2014 als Bürgermeisterin für die Themen Mobilität und Verkehr in Utrecht zuständig, steht fest: „Das Fahrrad ist Teil der Lösung für zentrale Probleme des 21. Jahrhunderts.“ Wie viel länger lebt, wer sich Verkehrsstress erspart, auch solchen Fragen nähert man sich in Utrecht empirisch. Die Bürgermeisterin drückt es einfacher aus: „Beim Radfahren geht es nicht allein um Zeitgewinn, es muss auch Spaß machen. Wir wollen Platz für die Menschen schaffen, nicht für Autos.“

Wie es gehen kann, zeigt auch das Ruhrgebiet. Das bereits fertiggestellte erste Teilstück des RS 1, der auf einer Länge von mehr als hundert Kilometern einmal von Duisburg nach Hamm führen soll, ist 10,5 Kilometer lang und verläuft zwischen Essen und Mühlheim auf der stillgelegten Trasse der Rheinischen Bahn. In NRW hat die schwarz-gelbe Landesregierung seit eineinhalb Jahren den Auftrag, ein Radverkehrsgesetz zu erarbeiten. Damit hätte der Ausbau des Radverkehrs im bevölkerungsreichsten Bundesland ab Frühjahr 2022 Gesetzesrang. Den Anstoß gab ein Bürgerentscheid mit knapp 207 000 Unterschriften. Das ehrgeizige Ziel: der Bau von tausend Kilometer kreuzungsfreien Radschnellwegen bis 2025. Allein in Essen sollen dafür in den kommenden Jahren 28 neue Stellen in der Verwaltung geschaffen werden. Dass es dabei auch viele Widerstände zu überwinden gilt, daraus macht Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) keinen Hehl: „An den Blumen, die einem bei diesem Thema nachgeworfen werden“, sagt er, „hängen meist die Töpfe dran.“

Zurück nach Utrecht: Als sich die Delegation aus dem Ländle zur Heimreise am Hauptbahnhof versammelt, strömen Hunderte Demonstranten vom Rathaus Richtung Innenstadt. Es ist Freitag. Die Fridays-for-Future-Bewegung fordert lautstark und mit Plakaten mehr Tempo im Kampf gegen die drohende Klimakatastrophe. Schließlich gibt es auch in den Niederlanden noch viel zu tun.

 

Entwicklung in Kirchheim stagniert

Rund 16 Prozent beträgt den aktuellsten Zahlen zufolge der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen in der Stadt Kirchheim. Das liegt leicht über dem Landesdurchschnitt, birgt aus Sicht des Bürgermeisters aber ein Problem: Die Quote stagniert seit Jahren. „Bisher ging es vor allem um Schutzstreifen und Streckenführungen“, sagt Günter Riemer. „Jetzt geht es um einen Paradigmenwechsel.“

Wie der gelingen kann, hat Riemer als Teil der vom Verkehrsministerium angeführten Exkursion nach Nordrhein-Westfalen und in die Niederlande verfolgt. Was lässt sich davon auf Kirchheim übertragen? „Wir brauchen sichere Routen, die dem Fahrrad Vorrang einräumen“, sagt der Beigeordnete. Im Rahmen des städtischen Aktionsprogramms zur Verbesserung des Radverkehrs, das bis 2023 läuft, macht Riemer sich für Fahrradstraßen stark. Eine mögliche Pilotstrecke könnte entlang der alten Bahntrasse nach Weilheim verlaufen, die vor allem für den Schülerverkehr aus Richtung Dettingen Vorteile brächte. Die breit ausgebaute Bismarckstraße wäre für ihn die ideale Lösung für eine Anbindung an die Innenstadt. Der Vorteil: Hier bräuchte es keine langwierige Planung. Die verkehrsrechtliche Ausweisung würde genügen. Eine Maßnahme, die man schon im kommenden Jahr umsetzen will und von der Riemer überzeugt ist, dass sie politisch mehrheitsfähig ist.

Der Vorsitzende der AG Fahrradfreundlicher Kommunen im Land will das Thema aber nicht auf den Radverkehr beschränken. „Wir haben 1600 Parkplätze in der Innenstadt, die nur an Marktsamstagen belegt sind“, sagt er. „Was wir brauchen, ist ein umfassendes Mobilitätskonzept.“bk

 

 

Interview: Planer sind Mangelware

Andreas Hollatz ist als Abteilungsleiter „Straßenverkehr und Straßeninfrastruktur“ im Stuttgarter Verkehrsministerium unter anderem für die Koordination und Planung von Radschnellwegen verantwortlich. Wir wollten von ihm wissen, wo die Chancen und Konfliktfelder liegen, wenn es darum geht, mehr Menschen zum Umstieg aufs Fahrrad zu bewegen.

Das Land plant bis 2025 drei Pilotprojekte, die hohe Ausbaustandards versprechen. Wieviel von dem wird sich in diesem Zeitraum halten lassen?
Hollatz: Wir wollen bis 2030 insgesamt 20 Radschnellwege mit mehr als 250 Kilometern bauen. Eine große Teilmenge davon bis 2028. Wir können aber nur die Abschnitte bauen, die bereits Baurecht haben. Das sind meist die einfacheren Projekte, bei denen wir wiederum nur Teilstücke machen können. Wenn man als Beispiel den Radschnellweg 4 zwischen Reichenbach und Stuttgart nimmt, gehen wir davon aus, dass wir bis 2025 von den knapp über 20 Kilometern Gesamtlänge etwa die Hälfte in Teilabschnitten werden bauen können. Wir haben die Absicht, bis 2028 auch den Rest zu bauen. Ziel ist es, etwa 80 Prozent der Gesamtstrecke mit vollen vier Metern Fahrbahnbreite und, wo erforderlich, abgetrennt durch einen Grünstreifen, mit zwei Metern Breite einen Gehweg zu bauen. Das heißt, ein kleinerer Teil wird aufgrund erschwerter Verhältnisse auch mit reduziertem Querschnitt möglich sein.

Für eine Direktverbindung von Kirchheim über die Filder nach Stuttgart ist eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Wie schätzen Sie dort das Konfliktpotenzial im Vergleich zum geplanten Radschnellweg durchs Neckartal ein?
Ein Radschnellweg hat im Prinzip den Standard einer Landesstraße. Wenn man neu plant, gibt es überall Konfliktpotenzial, zum Beispiel, weil man Grunderwerb benötigt sowie in Vegetationsstrukturen und in bestehende bauliche Strukturen eingreift. Der Neckarraum ist nun mal sehr dicht besiedelt. Im Regierungspräsidium Stuttgart als planende Behörde wird man natürlich versuchen, unter Beteiligung der Kommunen möglichst konfliktfrei befriedigende Lösungen zu finden. Sobald die Machbarkeitsstudie vorliegt, werden wir aber wesentlich mehr über das Konfliktpotential wissen.

Um mehr Menschen aufs Rad zu bringen, muss man sie begeistern, eine Aufbruchstimmung erzeugen. Mit Planungszeiträumen von bis zu zehn Jahren fällt das schwer. Warum dauert das so lange?
Die größten Erschwernisse, die uns als planende Behörde treffen, ist der Personalmangel. Wir können nicht so viele Stellen besetzen, wie wir gerne würden. Es gibt nicht genügend geeignete Bauingenieure und Landschaftsplaner auf dem Arbeitsmarkt. Das andere sind umweltrechtliche Aspekte, die wir mitbetrachten müssen. Ein Beispiel: Wie im Straßenbau auch, müssen wir ein Jahr lang, also über eine Vegetationsperiode, die Arten, die im Untersuchungsraum vorkommen, untersuchen. Dies wird ausgewertet und ein Gutachten erstellt. Das dauert alleine eineinhalb bis zwei Jahre. Deshalb gibt es immer Abschnitte, die schwieriger und einfacher umzusetzen sind, auch was zum Beispiel die Fragen des Grunderwerbs betrifft, wo es ebenfalls viele Konfliktsituationen gibt. Dort muss man den Weg des Planfeststellungsverfahrens nehmen. Das dauert dann in der Regel fünf bis sieben Jahre. Wir versuchen natürlich immer, mit einfachen Verfahren voranzukommen.

Was ist für den Erfolg einer Trasse wichtiger: eine zügige Freigabe oder hohe Standards von Beginn an?
Ich würde sagen, eine möglichst zügige Freigabe, auch mit reduzierten Standards. Die 80 Prozent sind ja gesetzt. Aber wir müssen natürlich auch Durchgängigkeit erzielen. Radschnellwegprojekte sind nicht isoliert zu betrachten, sie sind ja Bestandteil des vorhandenen Radnetzes. Ziel muss es sein, möglichst große Distanzen anbieten zu können. Mit dem Pedelec sind heute auch längere Strecken zur Arbeit problemlos möglich. Ziel ist es schließlich auch, dass wir eine Verlagerung des Verkehrs von der B10 auf den Landesradschnellweg mit möglichst vielen Nutzern hinbekommen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass in Bereichen um Esslingen bis zu 7 000 Radler täglich dieses Angebot nutzen werden.

Was kann man von Nachbarn wie den Niederlanden lernen?
Viel. Ich war bei unserer Reise erstaunt, wie schnell dieses besondere „holländische“ Fahrradgefühl bei uns als Exkursionsteilnehmer entstanden ist. Auch die Vernetzung von Öffentlichem Nahverkehr und dem Fahrrad hat mich beeindruckt. Etwa durch Stellplätze direkt unter dem Bahnsteig, wie wir das in Houten erlebt haben. Auch die gesonderte Einfärbung des Belags muss man sich überlegen. Was vielleicht entscheidend ist: Die Infrastruktur, die wir schaffen, muss einfach und intuitiv nutzbar sein und dies aus Sicherheitsgründen auf eigenen Radwegen. Bernd Köble