Kirchheim

Wenn der Kamin raucht, gibt es frisches Brot

Vor 165 Jahren wurde das Lindorfer Backhaus gebaut und stieß zunächst auf keine große Gegenliebe

Während des Zweiten Weltkrieges wurden viele Schüsse abgegeben, in Lindorf nur einer – der fiel im Backhaus. Das historische Gebäude ist eine kleine Institution.

Noch heute wird im Backhaus regelmäßig kräftig eingeheizt. Nicht nur Brote und Dätscher gelangen in den Ofen. „Die heißen 5“ hab
Noch heute wird im Backhaus regelmäßig kräftig eingeheizt. Nicht nur Brote und Dätscher gelangen in den Ofen. „Die heißen 5“ haben auch schon ein Wildschwein in dem historischen Gemäuer gegart.Fotos: Daniela Haußmann

Kirchheim. Generationen von Lindorfern sind mit dem Backhaus im Herzen ihrer Gemeinde groß geworden. Ob Brote, Dätscher oder Kuchen – in dem alten Gemäuer glüht regelmäßig der Ofen. Doch was für viele heute ganz selbstverständlich zum Gemeindeleben gehört, sorgte vor über 165 Jahren für Debatten. 1808 verordnete König Friedrich I., dass binnen Jahresfrist in allen Orten Gemeindebackhäuser zu bauen sind. Wegen der großen Brandgefahr galten Hausbacköfen als gefährlich. „Außerdem sollte dem hohen Holzverbrauch entgegengewirkt werden“, wie Ernst Kümmerle von den „Heißen 5“, die im Backhaus den Schornstein immer wieder zum Rauchen bringen, berichtet.

Zwei Jahrzehnte lang monierte das Kirchheimer Oberamt, dass in seinem Bezirk eine öffentliche Backmöglichkeit fehlte. Am 30. März 1840 verfügte es den verpflichtenden Bau von Backhäusern. Die Lindorfer waren wenig begeistert. „Schließlich kostete der Bau Geld, außerdem war die Mehrheit der Bevölkerung zu arm, um genug Mehl zu kaufen und auf Vorrat zu backen“, erklärt Ernst Kümmerle. „Es gab nur 20 Haushalte, die in der Lage waren, die anfallenden Kosten zu stemmen.“ So wäre der Backofen nur ein- oder zweimal am Tag benutzt worden. Abgesehen davon gab es in dem kleinen Ort einen Bäcker, der für 1,5 Kreuzer Brot backte, wie Lydia Schiettinger erzählt.

„1851 wurde das Backhaus nach vielem Hin und Her trotzdem gebaut. In der Folge weigerten sich die Gegner strikt, es zu nutzen“, erzählt die 90-Jährige. Im selben Jahr

wurde das Gebäude fertiggestellt und diente, ebenso wie 1853, als Suppenküche, die Bedürftigen durch die Hungersnöte half. 1927 und 1933 musste das Häuschen renoviert werden. Daran kann sich Lydia Schiettinger noch gut erinnern. Schließlich war es ihr Vater, der den Auftrag zur Ofensanierung erhielt. „Um die Arbeiten auszuführen, kroch er durch die Öffnung hinein, und ich musste ihn an den Füßen herausziehen“, lacht sie.

In kalten Herbst- und Winternächten haben die Lindorfer Granit-, Back- und Ziegelsteine im Backhaus erwärmt. „Eingewickelt in Tücher, wurden sie nach Hause getragen und ins Bett gelegt“, erzählt Lydia Schiettinger. „Die Gebäude waren damals noch nicht so gut isoliert wie heute. Ein warmer Stein im Bett war deshalb wichtig.“ Der 90-Jährigen zufolge wanderten nicht nur Weizenbrote in den Ofen. Hin und wieder sei auch rares Roggenmehl untergemischt worden. Aber auch Dätscher wurden gebacken. „Allerdings ohne Speck, der war teuer“, so Lydia Schiettinger. „Kümmel, Schnittlauch und Petersilie waren gängige Zutaten für den Belag.“ Pech hatte laut Ernst Kümmerle derjenige, der am Backtag als Erster vor dem kalten Ofen stand. „Der Unglückliche musste natürlich mehr Reisig aufwenden, weil das Bauwerk zunächst ordentlich auf Temperatur gebracht werden musste“, so der 64-Jährige.

Während des Zweiten Weltkrieges „ist in Lindorf nur ein einziger Schuss gefallen“, erinnert sich Schiettinger. „Das geschah im Backhaus. Ob sich der Schuss zufällig aus der Waffe löste, oder weil ein französischer Kriegsgefangener fliehen wollte, ließ sich nie in Erfahrung bringen.“ Das Projektil blieb im Ofen stecken und wurde bei einer späteren Renovierung entfernt. In den Sechzigerjahren verlor das Backhaus zunächst an Bedeutung. „Elektrische Haushaltsgeräte kamen auf, die Haushalts- und Familiengrößen sanken, und der dörfliche Alltag änderte sich“, erklärt Ernst Kümmerle. „Erst in den Siebzigerjahren stieg das Interesse an der öffentlichen Backanstalt wieder.“ Darauf reagierte die Kommune 1975 mit einer Komplettsanierung, in die sie 16 500 Mark investierte.

„Das Backhaus war ein sozialer Treffpunkt“, sagt Lydia Schiettinger. „Meist waren vier Leute anwesend, die sich unterhielten, Neuigkeiten und Erlebnisse austauschten.“ Das förderte die Gemeinschaft und die Interaktion unter der Bürgerschaft. Ernst Kümmerle weiß noch, wie seine Mutter die fertigen Brote mit einem Leiterwagen nach Hause brachte. „Ich und ein Freund sind immer hinterhergelaufen, um die Brotecken abzubrechen und zu essen“, schmunzelt Kümmerle, der mit dem Backhaus groß wurde und zusammen mit den „Heißen 5“ seit 15 Jahren die Kunst des Brotbackens nach alter Tradition aufrechterhält.

Wenn der Kamin raucht, gibt es frisches Brot
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