Kirchheim

Wer allein ist, wird häufiger rückfällig

Pandemie Für viele suchtkranke Menschen ist es momentan noch schwerer als sonst, der Versuchung zu widerstehen. Manchen bietet die Coronakrise aber auch eine Verschnaufpause. Von Antje Dörr

Allein mit Bier und Bildschirm: Das kann zu Abhängigkeiten führen. Foto: Markus Brändli
Allein mit Bier und Bildschirm: Das kann zu Abhängigkeiten führen. Foto: Markus Brändli

Die einen essen mehr Schokolade, die anderen treiben täglich Sport und wieder andere trinken abends ein Glas mehr als sonst: In der Coronakrise hat wohl jeder Mensch Strategien entwickelt, um die Zeit der Isolation, der Ungewissheit und bei manchen auch der Existenzangst zu überstehen. Manche dieser Strategien sind harmlos, andere nicht. Führt die Coronakrise dazu, dass mehr Menschen von Dingen abhängig werden, die ihnen schaden? Katrin Janssen kann darauf noch keine Antwort geben. „Fragen Sie mich in zwei Jahren noch einmal“, sagt die Gesamtleiterin der Beratungsstelle Sucht und Prävention, die in Trägerschaft des Landkreises Esslingen und des Kreisdiakonieverbands vier Beratungsstellen unterhält.

Ein Teil jener Menschen, der in der Coronakrise begonnen habe, beispielsweise mehr zu trinken, werde wieder die Kurve kriegen. „Andere werden ein ernsthaftes Problem entwickeln.“ Das sei aber noch nicht absehbar, denn: „Wer jetzt mehr trinkt, ruft nicht morgen in der Beratungsstelle an. Bis man sich eingesteht, dass man ein Problem hat, dauert das ja.“

Beratung seit April telefonisch

Während sich über die Zunahme der Suchtkranken infolge der Pandemie also nur spekulieren lässt, haben Katrin Janssen und ihre Mitarbeiter jene Menschen im Blick, die schon heute in den Beratungsstellen in Kirchheim, Nürtingen, Esslingen und Leinfelden-Echterdingen ein und aus gehen. Wobei das momentan nicht wörtlich gemeint ist. Seit Anfang April beraten die Mitarbeiter nur noch telefonisch, auch zum Schutz der Klienten, die aufgrund von Begleit- erkrankungen der Alkohol- oder Drogenabhängigkeit größtenteils zur Risikogruppe gehören. „Das war eine Riesenumstellung für uns und unsere Klienten“, sagt Katrin Janssen, deren Mitarbeiter allerdings auch gute Erfahrungen mit der neuen Art der Beratung gemacht haben. „Einige unserer Klienten haben das als positiv empfunden und konnten freier als sonst erzählen“, berichtet sie. Bei anderen habe das Fehlen des persönlichen Gesprächs zu einer völligen Blockade geführt. Allmählich sind auch Vor-Ort-Beratung und Gruppen mit wenigen Teilnehmern wieder erlaubt. Die ambulanten Reha-Gruppen für Menschen, die in einer Klinik entgiftet haben, fanden zuletzt per Videokonferenz statt. „Bei manchen klappt das gut, bei anderen ist die technische Hürde zu hoch“, sagt Katrin Janssen. Andere Angebote der Beratungsstelle fallen momentan komplett flach, beispielsweise die Frühinterventionsangebote, die sich an jene Menschen richten, die sich im frühen Stadium des Erstkonsums befinden. Auch die Präventionsangebote in Schulen finden aktuell nicht statt.

Einige ihrer Klienten hätten der Coronakrise etwas Positives abgewinnen können, und zwar die Glücksspieler, sagt Katrin Janssen. „Weil die Casinos und Wettbüros zu hatten, kam das Verlangen, zu spielen, gar nicht erst hoch.“ Es habe natürlich auch solche gegeben, die einfach online gespielt hätten. „Aber der andere Teil war größer.“

Bei den Alkohol- und Drogenabhängigen wirkt sich die Coronakrise unterschiedlich aus. „Wir können nicht sagen, dass Corona bei allen zu Rückfällen geführt hat“, sagt Katrin Janssen. Manche stärke diese Situation in ihrer Abstinenz, weil sie mehr Freizeit hätten und Zeit mit ihrer Familie verbringen könnten. Der Teil jener Menschen, die zu kämpfen hätten, sei jedoch größer. Bei sehr vielen Klienten, die schon vor Corona Schwierigkeiten gehabt hätten, würden diese Probleme verstärkt. „Es macht einen großen Unterschied, ob man familiär gut eingebunden ist. Wenn jemand allein ist und mit Einsamkeit zu kämpfen hat, kommt es häufiger zu Rückfällen“, sagt Katrin Janssen. Und die Mitarbeiter der Beratungsstellen hätten momentan die Schwierigkeit, dass sie telefonisch keine Abstinenzkontrolle machen könnten. „Man kann es am Telefon ja nicht riechen“, sagt Katrin Janssen.

Die Beratungsstelle Sucht und Prävention in Kirchheim ist unter der Telefonnummer 07 11/39 02-4 84 80 erreichbar.

Die Zahlen der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) haben Ende April für Aufsehen gesorgt: In der Coronakrise sind die Verkaufszahlen für Alkohol gestiegen. Beispielsweise gingen im Zeitraum zwischen Ende Februar und Ende März rund 30 Prozent mehr Weinflaschen über die Ladentheken als sonst. Bei Spirituosen berichtet das Marktforschungsinstitut von einer ähnlichen Steigerung.

Katrin Janssen, die Leiterin der Beratungsstelle Sucht und Prävention im Landkreis Esslingen, warnt jedoch vor falschen Schlüssen. Schließlich hätten im Vergleichszeitraum Kneipen und Restaurants schließen müssen. Möglicherweise habe sich der Alkoholkonsum einfach ins Private verlagert. Ob der Alkoholkonsum in der Coronakrise insgesamt gestiegen sei, könne heute aber noch niemand sagen. adö