Kirchheim

Wer den Wandel verschläft

Der Kreis altert langsamer als im Landesdurchschnitt, ist aber gewarnt

Der Anteil älterer Menschen im Land wächst, und nichts kann diesen Trend aufhalten. Im bevölkerungsreichen Landkreis Esslingen ist davon weniger als in ländlichen Gebieten zu spüren. Ein Grund mehr, Kinder und Familien nicht aus den Augen zu verlieren, sagt eine aktuelle Studie.

Die demografische Entwicklung in Land und Landkreis ist kein Ruhekissen. Die Gesellschaft ändert sich. Weniger Nachwuchs, das Du

Die demografische Entwicklung in Land und Landkreis ist kein Ruhekissen. Die Gesellschaft ändert sich. Weniger Nachwuchs, das Durchschnittsalter steigt. Die nachkommende Generation stellt auch der Politik neue Aufgaben. Foto: Antje Dörr

Esslingen. Auf dem Land vollzieht sich der demografische Wandel schneller als in den Städten. Im Ballungsraum gibt es bessere Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten, eine bessere Infrastruktur, vor allem, wenn es um die Unterstützung von Kindern- und Jugendlichen geht. Der Kreis Esslingen als starker Wirtschaftsraum mit hoher Bevölkerungsdichte profitiert davon. Das zeigt eine Studie des Kommunalverbands für Jugend und Soziales (KVJS), der im Jugendhilfe- und Sozialausschuss des Kreistags bereits zum zweiten Mal nach 2010 vorgestellt wurde. Der Bericht macht aber auch deutlich: Der Trend ist unumkehrbar – trotz Zuwanderung.

Während ländlich geprägte Landkreise wie Freudenstadt oder Sigmaringen bis 2025 rund ein Viertel ihrer Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren verlieren werden, liegt der zu erwartende Rückgang im Kreis Esslingen nur bei 9,9 Prozent. Anlass zur Sorge gibt diese Entwicklung dennoch, denn die Gruppe der 15- bis Unter-21-Jährigen schwindet mit 17 Prozent am stärksten. „Das ist die Gruppe, die in Schule oder Ausbildung steckt, die sich in Vereinen oder auch politisch engagiert“, sagt die Sozialdezernentin im Esslinger Landratsamt, Alexandra Kiewel. „Deshalb ist es umso wichtiger, allen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, auch sozial Benachteiligten und jungen Flüchtlingen.“

Auf alle Kinder und Jugendliche unter 21 Jahren bezogen, kann der Kreis bis 2025 hingegen mit einem leichten Plus von 2,2 Prozent rechnen. Am stärksten wachsen hier die Universitätsstädte Karlsruhe, Heidelberg und Freiburg. Den größten Zuwachs verzeichnet der Kreis Esslingen bei Kindern im Vorschulalter: Bei den Unter-Sechsjährigen gehen die Statistiker in den kommenden zehn Jahren von einer Zunahme um 16 Prozent aus. Sollen Familie und Beruf leichter unter einen Hut zu bringen sein, heißt das vor allem: Es braucht mehr Tagesbetreuung für Kinder im Alter unter drei Jahren. Zwar ist dort die Betreuungsquote zwischen 2009 und 2014 von 12,8 auf 24,4 Prozent gestiegen. Doch damit gehört die Boom-Region am Neckar noch immer zur unteren Hälfte der 44 Stadt- und Landkreise in Baden-Württemberg.

Einen Spitzenplatz nimmt der Kreis dagegen beim Thema Schulsozialarbeit ein. Mit 1,4 Vollzeitkräften pro tausend Schüler liegt Esslingen hinter Pforzheim und Konstanz auf Platz drei. Ähnliches gilt für die Personalausstattung in der offenen Jugendarbeit, wo nur sechs Stadt- und Landkreise mehr Vollzeitkräfte zur Verfügung haben. Erfreuliches auch vom Arbeitsmarkt: Die Arbeitslosenquote der Unter-25-Jährigen ist im Fünfjahreszeitraum seit 2009 von 3,9 auf 2,5 Prozent gesunken. Damit liegt der Kreis Esslingen zwar nur im Mittelfeld, schneidet aber im Vergleich mit anderen Ballungsräumen besser ab. Dazu passt auch diese Zahl: Obwohl inzwischen jeder Dritte der Unter-18-Jährigen einen Migrationshintergrund hat, blieben 2013 nur 2,2 Prozent der Schüler an Werkreal- oder Hauptschulen ohne Abschluss.

Kreis mit guten Strukturen - Nachgefragt

Alexandra Kiewel

Alexandra Kiewel

Frau Kiewel, was sagen Ihnen die jüngsten Zahlen zur demografischen Entwicklung im Landkreis?

KIEWEL: Zunächst einmal sind wir sehr zufrieden mit den Ergebnissen des Berichts. Wir liegen hier an der Spitze im Vergleich zu den Landkreisen im mittleren Neckarraum. Sie zeigen, dass der Kreis hinsichtlich Investitionen in Kinder und Jugendliche seine Hausaufgaben gemacht hat. Sie zeigen aber auch, dass wir mit Blick auf kommende Jahrzehnte in diesem Bereich nicht nachlassen dürfen. Der Kreis ist entwicklungsstark. Wir müssen unsere guten sozialen Strukturen belastbar in die Zukunft führen.

 

Bei der Entwicklung der Schulsozialarbeit und der offenen Jugendarbeit schneidet der Kreis gut ab. In der Kindertagesbetreuung dagegen fehlt es an Personal und Plätzen.

KIEWEL: Das ist richtig. Hier besteht ein großer Bedarf, an dem wir arbeiten müssen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein zentrales Zukunftsthema, bei dem es wichtig ist, sehr stark vernetzt zu sein mit den Kommunen. Das sind wir.

 

Wo sehen Sie außerdem Handlungsbedarf?

KIEWEL: Wir dürfen nicht nur die nachkommende Generation im Blick haben. Der wachsende Bedarf, für alte und pflegebedürftige Menschen zu sorgen, ist eine große gesellschaftliche Herausforderung. Viele pflegende Angehörige sind heute selbst schon über 60. Wir werden in Zukunft mehr Pflegeplätze benötigen, stationär, aber auch ambulant. Da sind wir gemeinsam mit den Kommunen gefordert.

 

Die Studie spricht vom Zeitraum bis 2020 als „kritisches Jahrzehnt“, in dem man politisch gegensteuern sollte. Mehr als die Hälfte davon ist bereits vorüber. Liegen Sie gut im Zeitplan?

KIEWEL: Ja. Wir sind im Kreis gut und breit aufgestellt und haben dafür früh die Weichen gestellt mit einer integrierten Sozialplanung, die alle Lebensbereiche berücksichtigt. Daran werden wir aber konsequent weiterarbeiten müssen. Wir haben eine gut ausgebaute Schul- und Bildungslandschaft und kooperieren im Bereich der Jugendhilfe eng mit den Schulträgern und den freien Trägern. Der Landkreis ist hier ein wichtiger Partner, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche ans Leben heranzuführen.

 

Zuwanderung kann den demografischen Trend nicht umkehren, aber verlangsamen. Sind Sie darauf vorbereitet?

KIEWEL: Das Thema der Integration wird uns über die nächsten Jahre stark beschäftigen. Eine entscheidende Rolle kommt dabei dem Zusammenwirken von Verwaltung, Jobcenter, unserer heimischen Wirtschaft, den Kommunen, der Wohnungswirtschaft, den freien Trägern und Bildungseinrichtungen zu. In diesem Bereich sind alle gefordert. Wir sind gerade dabei, eine Integrationskonzeption zu entwickeln, die wir im Sommer zum ersten Mal vorstellen wollen. Sie soll Grundlage für eine ganzheitliche Beratungs- und Integrationsplanung im Landkreis sein. Dabei geht es um die wichtigsten Säulen Sprache, Bildung, Arbeit und Wohnen. Es geht auch darum, soziale Bindungen zu fördern und dafür zu sorgen, dass die Menschen unabhängig von Hilfen werden und selbstbestimmt leben.