Kirchheim

„Wer nicht wählt, versündigt sich“

Kriegsende In Kirchheim verzetteln sich die politischen Parteien Anfang 1919 in internen Lagerkämpfen. Aber fast alle warnen vor dem Kommunismus und vor der Spartakusgruppe. Von Andreas Volz

Vor hundert Jahren stand hier noch die alte Alleenschule. Auch um die Schulbildung stritten sich die Parteien vor den Wahlen für
Vor hundert Jahren stand hier noch die alte Alleenschule. Auch um die Schulbildung stritten sich die Parteien vor den Wahlen für die verfassunggebenden Versammlungen. Foto: Carsten Riedl

Anfang Januar 1919 ist der Wahlkampf in vollem Gange, denn bereits am 12. Januar wird die verfassunggebende Landesversammlung gewählt, eine Woche später die Nationalversammlung. In Kirchheim sind die Säle übervoll, wenn die Parteien ihre Wählerversammlungen abhalten. Auffällig ist, dass sich nicht nur Anhänger unter den Gästen finden, sondern auch politische Gegner. Das sorgt meistens für kontroverse Diskussionen.

Einig sind sich alle Parteien, wenn es darum geht, dass der Wahlkampf sachlich sein soll. Das scheint er in Kirchheim auch zu sein, weil kein Redner persönlich angegriffen wird. Die Parteien als solche dagegen bekämpfen sich mit harten Bandagen. So sagt - auf der Versammlung der konservativen Württembergischen Bürgerpartei - „zu ziemlich vorgerückter Stunde“ eine Rednerin, „daß das Programm der Sozialdemokratie unbedingt den Untergang des Staates herbeiführen müsse“. Die Folgen des Untergangs werden drastisch beschrieben: „Hunger, Kummer, Not und Elend.“

Was man als typisch verunglimpfende Übertreibung in Wahlkampfzeiten sehen könnte, zeigt in Wirklichkeit das spätere Dilemma der Weimarer Republik, die ja gerade erst entsteht: Die harten Friedensbestimmungen von Versailles, die Hyperinflation 1923 oder auch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 sollten immer wieder „Not und Elend“ bringen. Und tatsächlich wurde all das regelmäßig der Sozialdemokratie angelastet, weil es ihre Politiker waren, die erst den Waffenstillstand und dann den Friedensvertrag unterzeichneten. Dass sie in diesen Fällen überhaupt keine Wahl hatten, und dass auch jeder andere Politiker seine Unterschrift hätte leisten müssen, interessierte niemanden.

Am Dienstag, 7. Januar 1919, am selben Tag, an dem die Bürgerpartei den Untergangs des Staats an die Wand malt, wird auch von der Kirchheimer Versammlung der Sozialdemokratischen Partei berichtet. Selbstbewusst sagt Sergeant Rueß, er vertrete „diejenige Partei, welche von allen Parteien die einzige sei, die das deutsche Volk bis zur Stunde auch in dem tiefen Elend, in dem es sich bis jetzt befinde, nicht im Stich gelassen habe“. Selbst aus heutiger Sicht ist gegen diese Aussage inhaltlich nichts einzuwenden - waren es doch tatsächlich die Sozialdemokraten, die während des Zusammenbruchs im Herbst 1918 die Verantwortung übernahmen, die ihnen von Hindenburg und Ludendorff zugeschanzt worden war.

Hindenburg ist sakrosankt, Ludendorff dagegen wird im Teckboten von unterschiedlichen Seiten angegriffen. Am Samstag, 11. Januar 1919, heißt es von einer weiteren Kirchheimer SPD-Versammlung, die politische Schuld an der langen Kriegsdauer trage die alte Reichsregierung, „die der Spielball in den Händen des gewaltigen Generals Ludendorff war“. Am selben Tag greifen auch die Bürgerlich-Liberalen von der Deutschen demokratischen Partei in einem Wahlaufruf direkt die „Gewaltpolitiker“ der Bürgerpartei an: „Sie waren es, die den Gewaltmenschen Ludendorff in seiner unheilvollen Politik unterstützten.“

Es gibt ein interessantes Phänomen: Vor hundert Jahren bekämpfen sich in Kirchheim die Lager intern heftiger, als sie den eigentlichen Gegner auf der anderen Seite des Spektrums angreifen. Die Bürgerpartei wehrt sich heftig gegen den Vorwurf der Deutsch-Demokraten, nur eine Splittergruppe zu sein, die das bürgerliche Lager spalte. Zwar warnen beide Parteien ein Jahr nach der russischen Oktoberrevolution einmütig vor dem Kommunismus. Aber auch die Mehrheitssozialdemokraten fürchten dieses Gespenst. Sie kämpfen gegen ihre eigene Splittergruppe - die Unabhängige Sozialdemokratische Partei: Von Sergeant Rueß heißt es am 7. Januar 1919, er kritisiere „die verwerfliche Politik der links vom gesunden Menschenverstand stehenden Spartakusleute und eines Teils der in ihrer Gefolgschaft befindlichen unabhängigen Sozialisten“.

Die Bürgerpartei wiederum wirft der Sozialdemokratie vor, im November „zur Unzeit“ die Revolution herbeigeführt zu haben, und ahnt bereits Versailles voraus: „Bei einigem Widerstand an der Maaslinie hätten wir einen wesentlich besseren Frieden erreichen können, denn auch in Frankreich war durchaus keine Luft vorhanden, den Krieg noch einen fünften Winter durchzuhalten.“

Streit um die Einheitsschule

Indessen wird aber nicht nur gegen andere polemisiert. Es werden auch eigene Wahlprogramme präsentiert. Hier tut sich besonders die Deutsche demokratische Partei hervor, die in der Woche vor der ersten Wahl gleich mehrfach im Teckboten für ihre Forderungen wirbt, etwa für ein staatliches Konjunkturprogramm, für die Aufhebung der Adels- und Standesvorrechte, für die Kriegsbeschädigten-, Hinterbliebenen- und Erwerbslosenfürsorge, für eine „einmalige gestaffelte Vermögensabgabe“, für „Volksabstimmung bei wichtigen Gesetzen“ oder auch für einen „einheitlichen Aufbau des gesamten Schulwesens“. Es geht also nicht mehr nur um den Religionsunterricht, sondern um die heftig umstrittene Frage nach einer Einheitsschule, die an heutige Debatten um die Gemeinschaftsschule erinnert.

Einig dürften wiederum alle Parteien mit einem Wahlaufruf der Deutsch-Demokraten gewesen sein, der Demokratie, Glauben und Patriotismus zeittypisch vereint: „Wer nicht wählt, versündigt sich am Vaterland.“