Paprika und Radieschen liegen auf der Arbeitsplatte bereit, um fürs Abendbrot geschnippelt zu werden. Doch als der Fotograf ein Bild für die Zeitung machen möchte, legt die ältere Dame das Küchenmesser aus der Hand und will tanzen. Die Situationskomik treibt den Mitarbeiterinnen und der Bewohnerin Lachtränen in die Augen. Der Alltag in der Demenz-WG im Kirchheimer Steingauareal ist immer wieder für Überraschungen gut. Es ist die zweite Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz, die der Verein „Gemeinsam statt einsam“ in Kirchheim gegründet hat.
Drei Frauen haben ihre Zimmer im März bezogen, die vierte wird an diesem Tag aufgenommen. Während die ältere Dame mit den anderen Bewohnerinnen bereits am Esstisch in der gemeinschaftlich genutzten Wohnküche sitzt und sich über Handarbeiten beugt, nimmt ihre Tochter die Möbel in Empfang, die ein Umzugsdienst gerade liefert. Die gemütliche, rot-grün gemusterte Eckbank aus der heimischen Küche findet gleich neben der Tür Platz. Leicht fällt der Schritt nicht, die Mutter in der WG unterzubringen, doch das Konzept überzeugt die Tochter: „Ich hoffe, dass sie hier als Mensch wahrgenommen wird“, sagt sie. Das Besondere an der WG ist der familiäre Charakter. „Die acht Bewohner leben im besten Fall über Jahre zusammen“, sagt die Vereinsvorsitzende Jana Appel. Die Angehörigen packen mit an, sei es, dass sie zum Kuchenbacken kommen, den Einkauf erledigen, Fenster putzen, bei der Gartenarbeit helfen oder allen etwas vorlesen. „In einem Pflegeheim besuchen die Kinder meist nur die eigene Mama, hier ist man Teil vom Ganzen“, erklärt die Fachfrau.
Gewollt ist zudem die Förderung der Bewohnerinnen. Sie bringen sich mit dem ein, was sie können. Unterstützt werden sie je von zwei Alltagsbegleiterinnen. Ob es darum geht, die Wäsche zusammenzulegen oder das Essen vorzubereiten - kaum ein Schritt wird ohne die Betagten gemacht.
Den Aufbau der neuen WG beschreibt Jana Appel als zeitintensiv, aber gleichzeitig auch als „super spannend und lehrreich“. Sämtliche Verträge mussten aufgesetzt, Möbel für die gemeinsam genutzten Räume besorgt und eine hauptamtliche Leiterin des Vereins gesucht werden. All das in Zeiten der Pandemie. Corona bringt auch Herausforderungen mit sich, weil WGs bei den Regeln des Landes durchs Raster fallen. So war es für den Verein anfangs schwierig, an Masken heranzukommen. Die Impfung in beiden WGs zu organisieren war ebenfalls ein Kraftakt. Doch inzwischen hat ein mobiles Impfteam dem gesamten Personal und allen Bewohnern bereits zweimal den schützenden Piks verabreicht. Nach wie vor tragen alle Mitarbeiterinnen Maske. „Für die Bewohnerinnen ist die Mimik enorm wichtig. Sie verstehen uns deshalb oft nicht gut“, bedauert die hauptamtliche Leiterin des Vereins, Sandra Veygel.
Obwohl es für die erste Demenz-WG eine große Warteliste gab, war es anfangs schwierig, für den „Ableger“ in der Otto-Mörike-Straße genügend Interessenten zu finden. „Die Angehörigen hatten große Angst davor, wegen Corona nicht zu Besuch kommen zu dürfen“, sagt Jana Appel. „Jetzt machen wir den Umzug auf gar keinen Fall“, so lautete oft der Tenor. Die Sorge ist unbegründet. Zwar darf derzeit jeweils nur ein Angehöriger kommen, ganz abgeschottet war aber auch die Wohngemeinschaft in der Hindenburgstraße nie.
In der neuen „WG Mittendrin“ im Steingauareal setzt man darauf, dass nach der Pandemie das direkt unter der Wohnung liegende inklusive Café mit dem gleichen Namen eifrig besucht werden kann. Schon jetzt bringen die Mitarbeiter regelmäßig leckere Kuchen vorbei. Auch soll es dann in beiden Wohngemeinschaften wieder mehr Angebote von Ehrenamtlichen geben. Sei es, dass gemeinsam gebastelt, musiziert oder Gymnastik gemacht wird.
Jetzt steht jedoch erst einmal das Abendessen an. Paprikastreifen und Radieschen wurden inzwischen neben Wurst und Käse auf Tellern angerichtet. Auch die neue Bewohnerin lässt sich das Vesper in der gemütlichen Runde schmecken. Ihr Zimmer ist derweil längst mit den vertrauten Möbeln eingerichtet. „Es ist so süß geworden“, sagt Sandra Veygel - beste Voraussetzung dafür, dass sich die ältere Dame in der Wohngemeinschaft bald zu Hause fühlt und dann auch die Tochter wirklich aufatmen kann.