Kirchheim

Wie weit darf die Kunst gehen?

Musik Auf dem Programm der Stadtkapelle stehen Lieder, die den Holocaust thematisieren – eine Gratwanderung.

Kirchheim. Für ihre originelle Programmgestaltung ist die Stadtkapelle Kirchheim ebenso bekannt wie beliebt. Zugleich fungiert sie als engagierte Botschafterin zeitgenössischer Musik. Bringt doch der innovative Schmelztiegel sinfonischer Blasmusik ein Repertoire hervor, in dem modernste Spiel- und Satztechniken höchst klangsinnliche Ergebnisse zeitigen, die auch breitere Hörerschichten anzusprechen, ja zu begeistern wissen.

Da machte auch das Benefizkonzert der Kapelle zugunsten der Kirchheimer Martinskirchenstiftung keine Ausnahme. Mit Stephan Adams raffiniert gestrickter Intrada über „Eine feste Burg ist unser Gott“, bei der das Blechbläserensemble von Ralf Sach an der Orgel begleitet wurde, und Händels Passacaglia aus der g-Moll-Suite, der ein sinfonisches Bläsergewand gekonnt auf den barocken Leib geschneidert wurde, wählten die Musiker unter Leitung von Stadtmusikdirektor Marc Lange einen fulminant bewegten Einstieg ins konzertante Geschehen.

Ist Kunst das richtige Mittel?

Dessen eigentliches Gravitationszentrum sollten jedoch John Williams Thema aus dem Film „Schindlers Liste“ und Robert Rumbelows dreiteilige Komposition „Die Nacht“ werden, die auf dem gleichnamigen Roman des Holocaust-Überlebenden und Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel beruht.

Nun sieht sich eine künstlerische Befassung mit dem Holocaust stets vor die Frage gestellt, inwiefern die massenhafte Vernichtung menschlichen Lebens überhaupt Gegenstand der Kunst sein kann, die doch ihrerseits als bejahender Ausdruck von Menschlichkeit und Zivilisation gilt. Gibt es überhaupt ästhetische Konzepte, die einem Gegenstand gerecht werden können, der undenkbare Extreme der Unmenschlichkeit in sich schließt? Oder stehen gerade der Kunst diejenigen gestalterischen Mittel zu Gebote, die den Gräuel Ausdruck verleihen können, wo historische Faktizität an ihre Grenzen stößt? Eine heikle Gratwanderung, deren Gelingen von dem Maß an Empathie und Bewusstsein abhängt, das Künstler und Rezipienten einbringen können. Qualitäten, an denen es jedenfalls dem Benefizkonzert in Kirchheim nicht mangelte.

Ein meisterhafter Geiger

Hervorzuheben ist die künstlerische Leistung des jungen Geigers Carl Rehberg, der den anspruchsvollen Solopart in Williams Filmmusik ausdrucksstark und mit geschmeidiger Technik meisterte. Auch die Akteure der Stadtkapelle wurden den komplexen Anforderungen des Tonsatzes nicht nur technisch vollauf gerecht, sie gingen in Rumbelows musikalischer Programmatik auch derart auf, dass die klanglichen Atmosphären substanziell zu greifen waren: klaustrophobische Stimmung im ersten Teil, martialische Rhythmen und tiefe Finsternis zum Schluss.

Wo die Musik naturgemäß an semantische Grenzen kommt, kann das Wort mit seiner Nennkraft helfen. Der Kirchheimer Dichter Hans-Hilmar Seel rezitierte Auszüge aus Wiesels Erinnerungen und sorgte somit für den konkreten Kontext dieses musikalisch-literarischen Gedenkens. Die auskomponierte Gottesferne, mit der Rumbelows beeindruckendes Werk schließt, sollte jedoch nicht das letzte Wort haben. Als hoffnungsvolles Sinnbild stand Johann Sebastian Bachs Choralbearbeitung „Jesus bleibet meine Freude“ zum Abschluss des Programms. Das Publikum in der gut besetzten Martinskirche dankte mit Applaus. Florian Stegmaier