Kirchheim

Wo Milch und Honig fließen

Überproduktion verschärft Existenzängste bei Milchbauern in der Region – Literpreis bei 25 Cent

Auch in und um Kirchheim bekommen Milchbauern von den Molkereien nur noch 25 Cent pro Liter Milch. Etwa 40 Cent sind nötig, um nachhaltig zu erzeugen.

Milchkühe halten lohnt sich kaum noch.Foto: Ralf Just
Milchkühe halten lohnt sich kaum noch.Foto: Ralf Just

Kirchheim. Es gibt zu viel Milch im Land. Bis zu fünf Prozent Überschuss erzeugen die Milchbauern in Deutschland. Im Landkreis Esslingen dominieren, im Gegensatz zu einigen Gegenden in Niedersachsen, Kleinbetriebe. Die Konsequenzen der Überproduktion bekommen vor allem sie zu spüren. Auch in Kirchheim und Umgebung ist der Milchpreis in den vergangenen zwei Jahren rapide gesunken. Im Moment zahlen die süddeutschen Molkereien noch etwa 25 Cent pro Liter – zum Leben reicht das nicht.

Noch vor zwei Jahren haben die Bauern mehr als 40 Cent pro Liter Milch bekommen. Dann erlebte die Branche einen Sturzflug – die Abschaffung der Milchquote tat ihr Übriges dazu. Siegfried Rau, Landwirt aus Notzingen, bekommt die Folgen jeden Tag zu spüren. In seinem Stall stehen acht Milchkühe. Die Landwirtschaft ist für den Forstwirt nur ein Nebenerwerb – zum Glück. Denn von „Erwerb“ kann er kaum mehr sprechen. „Mir fehlen im Monat fast 400 Euro“, sagt er. Seinen Stundenlohn traut er sich nicht auszurechnen. Hinge sein Herz nicht an seinen Milchkühen, hätte er seinen Betrieb vermutlich längst aufgegeben. Seine Frau kann über seine Leidenschaft nur den Kopf schütteln. „Zum Glück haben wir keine Schulden gemacht“, sagt er.

Als die Zeichen für die Milchwirtschaft vor zwei Jahren noch gut standen, haben viele Milchbauern expandiert. Großbetriebe gelten als wirtschaftlicher, kleine Betriebe eher als existenzbedroht. Für Modernisierungen zugunsten des Tierschutzes und besserer Technik bekommen die Bauern Zuschüsse von Bund und Land. Viele mussten dafür einen Schuldenberg aufnehmen. „Süßes Gift“, nennt der Vorsitzende des Kreisbauernverbands, Siegfried Nägele, die Förderungen. Manche Betriebe übernehmen sich, ihnen geht es jetzt an die Substanz.

Der wankende Milchmarkt hatte schon öfter Tiefphasen, nach denen die Preise sich langsam wieder in die Höhe geschraubt hatten. Schlechte Phasen können die meisten Landwirte verkraften, das gehört dazu. Die Angst gilt dem Dauerzustand. „Die jetzige Situation wird keiner lange aushalten“, sagt Siegfried Nägele, der einen Hof in Bissingen betreibt. Sollten die Rekordtiefpreise in Norddeutschland noch weiter in den Keller gehen, bekommen das auch die süddeutschen Landwirte zu spüren.

Wie es so weit kommen konnte, wagt er nicht zu sagen. Die Schuldfrage ist schwierig: Die Bauern produzieren Milch im Wettlauf, die Discounter drücken die Preise, die Verbraucher kaufen lieber billig als teuer. Laut Nägele ist die Menge Milch, die im Moment zu viel auf dem Markt ist, eigentlich gar nicht viel. Doch in dieser wackligen Konstellation bringt sie das Fass ganz wörtlich zum Überlaufen.

Die Parole jetzt lautet: weniger produzieren. Für die kleinen Landwirtschaftsbetriebe im Kreis ist das kaum realistisch. Gerade sie müssen um jeden Euro kämpfen. Noch weniger verkaufen, mit dem Risiko, dass die Konkurrenz daraus Gewinn schlägt, ist keine gern gesehene Option. „Wer es sich leisten kann, fährt sicherlich gut damit, weniger zu erzeugen“, rät Nägele. Aber wer kann das schon, gerade jetzt? Wenn der Markt nicht hier seine Ware findet, findet er sie woanders – und zwar günstiger. An staatliche Regulierung glaubt Nägele nicht – das sei noch nie gut gegangen. Den Kopf hält er trotzdem hoch: „Es wird wieder besser. Es muss besser werden“, sagt er mit einer stoischen Gelassenheit, wie sie nur die Erfahrung mit sich bringen kann. Die Milchbranche ist ein ständiges Auf und Ab.

Wo alle Gesetze versagen, muss der Bauer wieder selbst kreativ werden. Siegfried Rau aus Notzingen verkauft jetzt so viel Milch wie möglich bei sich auf dem Hof. So bekommt er ein Vielfaches an Lohn: 60 Cent pro Liter. Die Notzinger nehmen das Angebot an. Viel mehr als im Supermarkt kostet die frische Milch nicht und das Geld landet zu 100 Prozent beim Erzeuger.

Der Preisunterschied: Hightech-Ställe im Norden und Kleinbetriebe im Süden

Wenig Erzeuger im Kreis. Der Landkreis Esslingen zählt zu den Kreisen mit den wenigsten Milcherzeugern in Baden-Württemberg. 94 landwirtschaftliche Betriebe mit 2 461 Milchkühen gibt es dort (Stand 2011). 8,5 Prozent dieser Betriebe arbeiten nach ökologischen Standards. Nur in sieben Landkreisen stehen weniger Kühe als hier im Stall. Schlusslicht ist der Kreis Rastatt mit nur 16 Milch erzeugenden Betrieben.

Mehr Milch. Im Zeitraum zwischen 1993 und 2013 ist die Zahl der Milchkühe in Baden-Württemberg von 523 561 auf 342 935 gesunken. Deutlich gestiegen ist im selben Zeitraum der durchschnittliche Milchertrag: von 12,7 auf 18,3 Liter am Tag.

Billiger Norden. Einige Molkereien in Norddeutschland zahlen weniger als 20 Cent für einen Liter. In Süddeutschland liegt der Preis noch bei 25 Cent. Das liegt unter anderem daran, dass die norddeutsche Milch oft für Molkepulver verwendet wird, das derzeit einen schlechten Preis hat. Süddeutsche Milch wird eher als Frischmilch verkauft. Je nach Marktlage gibt es also ein Nord-Süd-Gefälle. Hightech-Ställe mit mehreren Hundert Kühen sind außerdem im Süden kaum zu finden.

Quote mit wenig Erfolg. Auch in der Zeit der Milchquotenregelung ist die Zahl der deutschen Milcherzeuger nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 369 000 auf 78 000 Betriebe gesunken. Das entspricht einem Rückgang von 79 Prozent. Auch für mehr Preisstabilität konnte die Quote nicht sorgen: Während 31 Jahren Quotenregelung gab es Schwankungen beim Erzeugerpreis für Rohmilch von bis zu 20 Cent pro Liter.

Züchtungserfolg. Anfang des 17. Jahrhunderts gab eine Kuh zwei Liter Milch pro Tag. Züchtung und Kraftfutter führten zu einer Steigerung bis zehn Liter in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Hochleistungskühe in robotergesteuerten Hightech-Ställen mit mehreren Hundert Tieren bringen es heute auf bis zu 50 Liter Milch am Tag.bk/mona