Kirchheim

Zeit wird anschaulich erfahrbar

Kunst Mark Formanek zeigt eine Video-Performance in einem Fenster des Kornhauses.

Strenge Taktung: Zum Umbau der Zeitanzeige bleibt den Arbeitern immeer nur eine Minute.  Foto: Bernd Schuller
Strenge Taktung: Zum Umbau der Zeitanzeige bleibt den Arbeitern immer nur eine Minute. Foto: Bernd Schuller

Kirchheim. Eines der berühmtesten Motive der Kinogeschichte zeigt den amerikanischen Schauspieler Harold Lloyd, der in dem 1923 gedrehten Film „Safety Last!“ an einer Hochhausfassade über den Straßenschluchten von New York hängt. Der Zeiger einer großen Uhr stellt für ihn den letzten Halt dar, an den er sich mit beiden Händen festklammert. Lloyd pflegte mit Maßanzug, Strohhut und Hornbrille vorwiegend den überangepassten US-Amerikaner zu spielen. Der Uhrzeiger als einziger und letzter Halt zeigte, dass der Preis des Erfolges in der modernen Industriegesellschaft die völlige Abhängigkeit von der vorgeschriebenen Taktung des Lebens in Liefertermine und Arbeitszeiten geworden war.

Noch bis zum 20. Dezember kann man in einem Schaufenster am Gebäude Max-Eyth-Straße 38 die filmische Dokumentation einer 24-Stunden-Performance verfolgen. „Standard Time“ ist der Titel der Gruppenaktion und des dabei entstandenen Videos des Künstlers Mark Formanek, der 1967 in Pinneberg geboren ist und in Berlin lebt. Sein Film zeigt eine vier mal zwölf Meter große Zeitanzeige in Stunden und Minuten. Die Zahlen werden durch senkrecht aufgestellte und verschraubte Bretter gebildet. Diese werden pünktlich und minutengenau, synchron zur Echtzeit, von einer im Schichtdienst wechselnden Arbeitercrew umgebaut.

Auch das Video läuft durchgehend ohne Schnitt über 24 Stunden, und das Filmbild stellt damit selbst eine eigene Art von Uhr dar. Dieses Format, bei dem die Filmzeit und die Realzeit gleichgesetzt werden, hat Tradition und erinnert an das Werk des amerikanischen Künstlers Andy Warhol, der die Spitze des Empire State Buildings für 24 Stunden auf die Kinoleinwand brachte.

Warhols Idee, den Zeitverlauf durch die völlige Abwesenheit von Dramatik zu vermitteln, wurde vor 20 Jahren medienhistorisch von den Aufnahmen der Anschläge vom 11. September konterkariert, bei denen der Zuschauer in scheinbar unendlicher Wiederholung Ereignisse verfolgen konnte, die alle bisherigen Vorstellungen übertrafen. Die Reihe lässt sich fortsetzen: Endlose Langeweile im verordneten Lockdown oder unübersehbarer Handlungsdruck bei den Folgen der Klimakatastrophe - widersprüchliches Zeitempfinden prägt auch die jetzige Epoche. Mark Formaneks Arbeit macht diese Qual zwischen Langsamkeit und Dramatik in einer unterhaltsamen, für den Passanten aber nur in Ausschnitten wahrnehmbaren Videoinstallation im Schaufenster erlebbar.

Die Abläufe sind durchorganisiert: 72 Arbeiter im Schichtbetrieb haben bei 1611 Umbauten jeweils eine Minute Zeit, die Bretteruhr zu aktualisieren. Damit scheinen sie zunächst nur die gleichförmigen Abläufe einer geregelten und fremdbestimmten Arbeitswelt zu versinnbildlichen. Jeweils zur vollen Stunde müssen jedoch alle Ziffern verändert werden, Dramatik kommt auf, denn die Arbeiter haben bis zur letzten Sekunde des Zeitfensters von einer Minute viel zu tun. Die Performance ähnelt dann einem spannenden Sportereignis und lässt die Frage nach Sinn und Bedeutung aller Anstrengungen vergessen.

In Kirchheim bleibt die Installation nur sieben Tage im Schaufenster. Möglicherweise wird man jedoch 2021 eine Wiederaufführung der Performance auf der „Ausgleichsfläche“ im Bürgerpark live verfolgen können. Zumindest sehen dies die Planungen des Kunstbeirats und des Künstlers Mark Formanek für das kommende Jahr vor. Bleibt zu hoffen, dass die zeitlichen Planungen nicht wieder überraschend durch das räumliche „Fahren auf Sicht“ ersetzt werden. Kai Bauer