Kirchheim
Zur Reifeprüfung ging es häufig mit Harry Haller und Anselmus

Abitur Am dritten Tag der schriftlichen Prüfungen haben in Kirchheim 124 von 319 Abiturienten fast sechs Stunden lang über ihren Deutsch-Aufsätzen gebrütet. Von Andreas Volz

Abitur im Wandel: Der Deutsch-Aufsatz ist keine Pflichtaufgabe mehr, um die allgemeine Hochschulreife zu erlangen, und etliche Schüler machten gestern in Kircheim Gebrauch von dieser Regelung. Am Schlossgymnasium brüteten 18 von 100 Abiturienten über ihren Aufsätzen, am Ludwig-Uhland-Gymnasium waren es hingegen 70 von 118. Die „Nicht-Schreiber“ kommen aber nicht ganz um das Fach Deutsch herum. Für sie geht es in einer mündlichen Prüfung um „Faust“, den „Goldenen Topf“ oder um den „Steppenwolf“.

An den Beruflichen Gymnasien – am Wirtschaftsgymnasium an der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule sowie am Technischen Gymnasium an der Max-Eyth-Schule – ist eine Deutsch-Prüfung nicht zwingend abzulegen, weder schriftlich noch mündlich. Trotzdem waren es am WG 25 Schüler, von insgesamt 62, die sich für den Deutsch-Aufsatz entschieden haben. Am TG war es genau ein Kandidat unter 39 Abiturienten, der sich der schriftlichen Deutsch-Prüfung gestellt hat.

Bei der „Faust“-Aufgabe wäre es um den merkantilen Aspekt der Verhältnisse gegangen, die Faust zu Mephisto, aber auch zu Gretchen unterhält – also um Kapitalismus, Vertagstreue und Prostitution. Weil die Lehrkräfte vor Ort aber zwischen zwei literarischen Aufgaben wählen konnten, entschieden sie sich in Kirchheim für den Vergleich des „gold’nen Topfs“ von E.T.A. Hoffmann mit Hesses „Steppenwolf“.

Grundlage dieser Aufgabe war ein Zitat von Rüdiger Safranski. Dabei ging es um die Frage, welche Rolle die Vorstellungskraft für das Leben spielt. Imagination dient demzufolge der Bereicherung des Lebens – als Kompensation dessen, was man nicht auslebt. Umgekehrt führe das Ausleben aller Vorstellungen zur Zerstörung, auch des eigenen Selbst. An den beiden allgemeinbildenden Gymnasien – „LUG“ und „Schloss“ – setzten sich gestern 37 Abiturienten mit dieser Themenstellung auseinander.

Die Gedichtinterpretation („Die Welt ist weit“ von Ingeborg Bachmann) und der Kurzprosatext („Ihr Gesicht“ von Brigitte Kronauer“) hatten die Gemeinsamkeit, dass es in beiden Fällen ums Reisen ging – um die Lebensreise oder auch um die Reise in innere Abgründe, die im Kronauer-Text weniger hoffnungsvoll und trostverheißend endet als im Bachmann-Gedicht. Zwölf Mal wurde gestern in Kirchheim das Gedicht interpretiert – unter anderem auch am WG – und 16 Mal die Kurzprosa.

Kommentar und Texterörterung hatten ebenfalls ähnliche Themen: Beim Kommentar, den es anhand verschiedener Materialien zu verfassen galt, ging es um „Höflichkeit im Wandel“ beziehungsweise den möglichen „Verlust des guten Tons“. Umgangs- und Anredeformen standen dabei ebenso im Fokus wie Fragen des Duzens und Siezens, die Funktion des „prosozialen Lügens“ oder auch die Verrohung des Umgangstons in sozialen Netzwerken. 19 Gymnasiasten haben gestern in Kirchheim einen Kommentar zu diesem Themenkreis geschrieben.

Alltagsphänomene als Themen 

Der Text, der zu erörtern war, beschäftigte sich ebenfalls mit sozialen Netzwerken, also mit der unmittelbaren Realität von Schülern: Robertoe Simanowski schrieb vor fünf Jahren über „Kommunikationsutopien“. Dabei geht es darum, dass die Nutzer von Facebook und ähnlichen Plattformen gar nicht mehr selbst alle möglichen Erlebnisse aus dem Alltag mit der halben Welt teilen. Vielmehr machen das die Maschinen künftig immer mehr als Automatismus. Kaum ist das Bild aufgenommen, wird es auch schon gepostet – und das nicht einmal mehr als bewusste Entscheidung des Menschen. Das Gerät versendet die Bilder von selbst, Die Offenlegung des eigenen Umfelds geht bis ins kleinste Detail, sodass andere Menschen über das eigene Leben des „Geposteten“ mehr in Erfahrung bringen können, als die betreffende Person selbst über sich weiß.. Diese Art der schönen neuen Medienwelt haben gestern sechs Deutsch-Aufsätze in Kirchheim zum Thema.

An den beruflichen Gymnasien gab es – vom Bachmann-Gedicht abgesehen – andere Aufgabenstellungen. Beim Werkvergleich ging es auf Grundlage eines Zitats von Anaïs Nin um die Frage, warum sich Harry Haller und Anselmus aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen. 17 Abiturs-Aufsätze sind dieser Frage auf den Grund gegangen. Zwei Essays zum Thema „Privilegien“ sind gestern am Berufsschulzentrum in Kirchheim entstanden. Zusätzlich gab es fünf Erörterungen zu einem Text, in dem Sascha Lobo das Homeoffice beschrieben hat und die Gewohnheiten, die sich dadurch verändern. Das lässt sich an der verschobenen „Duschspitze“ ablesen: Die Menschen duschen in Zeiten von Pandemie und Videokonferenzen deutlich später am Morgen.