Über Joachim Hahn ist schon etliches geschrieben worden. Zum Beispiel, dass sich der Pfarrerssohn in seiner Jugend auch eine Laufbahn im Polizeidienst hätte vorstellen können – oder als Naturwissenschaftler. 1954 in Stuttgart geboren, aber in Honau und Reichenbach aufgewachsen, ist er dann doch der Profession des Vaters gefolgt. Aus Überzeugung. Die jüdische Geschichte in Südwestdeutschland und darüber hinaus und der christlich-jüdische Dialog waren ihm dabei immer eine Herzenssache.
Der heute 68-Jährige studierte nach seinem Abitur am Plochinger Gymnasium Theologie in Tübingen und Göttingen, promovierte, wurde Pfarrer der Evangelischen Landeskirche, war Repetent am Evangelischen Stift in Tübingen, Studienleiter am Pfarrseminar in Stuttgart, Gemeindepfarrer, Dozent, Schulpfarrer und Kirchenrat. Doch die beachtliche Karriere im Kirchendienst ist nur die eine Seite des Vaters dreier mittlerweile erwachsener Kinder, der sich zudem als Plochinger SPD-Stadt- und -Kreisrat engagiert.
Seit seiner Jugend im Reichenbacher Pfarrhaus hatte es ihn umgetrieben, dass ein Vorgänger seines Vaters im Nachbarzimmer Jüdinnen und Juden vor den Nazischergen versteckt hatte – darunter das Ehepaar Krakauer. Als 17-Jähriger ging Joachim Hahn nach Israel, arbeitete in einem Kibbuz, sprach dort mit den Menschen über ihre schrecklichen Erlebnisse in Hitlerdeutschland.
Als sich seine Kibbuz-Eltern 1975 mit ihm auf Spurensuche ihrer Kindheit in den Ortenaukreis aufmachten, war er schockiert, dass ihre einstige Synagoge als Raiffeisendepot genutzt und dort gerade das Schweinefutter abgeladen wurde. Hahn: „Die Spuren jüdischen Lebens waren in dieser Zeit völlig verschwunden. Es gab kaum noch Hinweis- oder Gedenktafeln. Ehemalige Synagogen, sofern sie überhaupt noch standen, waren zweckentfremdet, Friedhöfe nur mangelhaft gepflegt.“
Das konnte nicht so bleiben. Und so setzte er all seinen Spürsinn, seinen Wissensdrang, seine sanfte, aber dennoch entschiedene Hartnäckigkeit dafür ein, den ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern wieder ein Gesicht und den Orten ihres Glaubens und Beisammenseins wieder Würde zu geben. Manche Urlaubsreise mit seiner Familie folgten nicht der Lust auf Strand und Meer, sondern den Indizien, wo noch ein Stück jüdischen Lebens verborgen sein könnte.
Ein Lebensthema
Anfangs war es vor allem Grundlagenmaterial, das er zusammengetragen hatte. Doch hinter jedem Namen auf dem Grabstein stand das individuelle Schicksal. „Die Biografien der Menschen sind mir immer besonders wichtig“, hatte er 2009 in einem Interview in der Zeitschrift „Momente – Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg“ betont. Da galt der Theologe in wissenschaftlichen Kreisen schon längst als der Experte für die jüdische Geschichte im Südwesten. Er hielt Vorträge, veröffentlichte seine Forschungsergebnisse in Büchern, Sammelwerken und Aufsätzen. Sein erster Band über die „Synagogen in Baden-Württemberg“ erschien 1987, „Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg“ ein Jahr später, in der Reihe „Friedhöfe in Stuttgart“ widmete er sich dem israelitischen Teil des Hoppenlau-Friedhofs, dem Prag- und dem Cannstatter Steigfriedhof. Für seine Dokumentation über „Das jüdische Leben in Esslingen“ erhielt er den Dr.-Fritz-Landenberger-Preis – nur einen von mehreren Auszeichnungen für sein Engagement. Dass an diesem Freitag auch noch das Bundesverdienstkreuz dazukommt, das ihm Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum diesjährigen Tag des Ehrenamts in Vertretung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verleiht, freut den 68-Jährigen ganz besonders. Gewürdigt wird damit die Lebensleistung des Plochingers.
Umfangreichste Website zur jüdischen Geschichte
Auch für www.alemannia-judaica.de: Er betreibt dort die umfangreichste Website zur jüdischen Geschichte in ganz Deutschland und darüber hinaus – vom unterfränkischen Hammelburg über das saarländische Merzig und das thüringische Apolda bis nach Rendsburg in Schleswig-Holstein und ins schweizerische Biel. 1992 hatte sich unter demselben Namen ein Netzwerk aus Einzelpersonen, Museen und Institutionen im gesamten südwestdeutschen Raum mitsamt Bayerisch-Schwaben, Vorarlberg, dem gesamten Bodenseeraum und dem Elsass zusammengetan. Auf dem Internetportal sind zu allen Orten mit ehemals jüdischen Gemeinden möglichst alle Informationen zusammengestellt. 2000 bis 3000 Menschen besuchen die von Hahn gepflegte Seite täglich – von Schülerinnen und Schülern, die ein Referat halten wollen, bis zu Angehörigen, die nach ihren Vorfahren forschen und im Netz auf sie stoßen.
Wie etwa die Amerikanerin Laura Wetzler, die dort auf Artikel über ihren Urgroßvater Moses Wetzler stieß, Vorsänger in der Kronacher Moschee. Seit 1936 gibt es in der oberfränkischen Kreisstadt keine jüdische Gemeinde mehr. Die Synagoge hatte die Reichspogromnacht zwar heil überstanden – aber nur, weil sie vorher an die Stadt verkauft worden war. Heute ist sie ein Veranstaltungszentrum, in dem Laura Wetzler dann mit ihrer Gitarre jüdische Lieder präsentiert hat. So knüpft Joachim Hahn Verbindungen über Zeit und Raum und hält so das Erinnern wach.