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Bremen weckt Verlierer auf

Regierungskoalition Die hiesigen Vertreter der Großen Koalition in Berlin räumen ein, moderne Themen nicht ausreichend besetzt zu haben. Die Wahl im kleinen Bremen hat Auswirkungen auf die große Politik. Von Irene Strifler

Symbolfoto Wahl, Wahlurne
Symbolfoto.

Von einer „herben Schlappe“ spricht der hiesige SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Nils Schmid mit Blick auf den gesamten Wahltag, aber auch speziell auf Bremen. Dort hofft er auf ein rot-rot-grünes Bündnis, eine Lösung, die im Stadtstaat, der keine außenpolitischen Belange verfolge, durchaus denkbar sei. „Die SPD tut gut daran, sich auch Optionen jenseits der CDU offenzuhalten“, betont er und bezeichnet die Bremen-Wahl als „Weckruf“. Der Finanzexperte sucht Ursachen für das Desaster: „Personaldebatten greifen zu kurz“, meint er und verweist auf inhaltliche Fragen. Die Sozialdemokraten hätten kaum Zukunftsthemen besetzt wie Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Digitalisierung. Jetzt müsse man an der inhaltlichen Modernisierung arbeiten.

Dass junge Köpfe nicht automatisch richtig liegen, liegt für Schmid spätestens seit den Äußerungen von Juso-Chef Kevin Kühnert zur Kollektivierung großer Unternehmen auf der Hand. „Das hat uns sehr geschadet“, betont er und warnt: „Wir dürfen nicht wieder in die Mottenkiste greifen.“ Die SPD brauche jetzt Zeit. Dass das kleine Bremen die Koalition in Berlin aus den Angeln hebt, glaubt er nicht. „Die Leute haben kein Verständnis, wenn dauerhaft die Regierung infrage gestellt wird“, spricht er sich für Sacharbeit aus.

Weckruf-Charakter bescheinigt der Wahl auch der Kirchheimer CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Hennrich: „Es muss uns gelingen, unsere bekannten Stärken in der Außen- und Sicherheitspolitik zu verknüpfen mit den modernen Anforderungen unserer Zeit“, meint er und fordert ebenfalls den Brückenschlag zu Arbeitsbereichen wie Digitalisierung, Freiheit im Netz oder Klimaschutz. „Die Themen sind auf dem Markt, wir haben sie nicht ernst genug genommen“, bedauert er, ergänzt aber auch, dass Politik letztlich durch Personal gemacht werde: „Da haben wir ein Problem.“ Der CDU müsse nun der Brückenschlag gelingen Richtung Mitte der Gesellschaft, also zum urbanen Milieu, wie es auch Kirchheim präge. Zwar sei er ein Fan der Großen Koalition mit erfahrenen Politikern als Macher gewesen, doch nun werde die CDU von der SPD in den Abwärtsstrudel gerissen. Mit Konsequenzen für die Berliner Regierung rechnet Hennrich allerdings erst nach den Herbst-Wahlen in Ostdeutschland. Das Wahlergebnis in Bremen, bei dem die CDU die SPD überholte, sei angesichts der desaströsen Gesamtzahlen kein Trost. Im Gegensatz zu seinem SPD-Kollegen hofft er hier auf ein Jamaika-Bündnis aus Schwarz, Gelb und Grün.

Siegmar Gabriel kommt mit Dr. Nils Schmid ins Wachthaus von 10 bis 12 zum Bürgerdialog  AUCH AN ESSLINGER ZEITUNG
Siegmar Gabriel kommt mit Dr. Nils Schmid ins Wachthaus von 10 bis 12 zum Bürgerdialog AUCH AN ESSLINGER ZEITUNG
Michael Hennrich
Michael Hennrich

Große und kleine Gewinner schwelgen im Europa-Glück, äußern aber auch Sorgen

Die Bundestagsabgeordneten des hiesigen Wahlkreises (von linkd)Matthias Gastel, Renata Alt, Michael Hennrich und Dr. Nils Schmid
Die Bundestagsabgeordneten des hiesigen Wahlkreises (von linkd)Matthias Gastel, Renata Alt, Michael Hennrich und Dr. Nils Schmid.

Eine tolle Bestätigung der liberalen Politik im Allgemeinen und auch ihrer eigenen Arbeit sieht die Kirchheimer FDP-Bundestagsabgeordnete Renata Alt im Europawahl­ergebnis. Dass der liberale Block ALDE dort jetzt drittstärkste Kraft ist, findet sie großartig, und sie hofft, dass die Liberale Margrethe Vestager Kommissionspräsidentin wird. Diese beschreibt Alt als „mutige Frau“, die sich auch mit großen Konzernen wie Google anlege im Bemühen um mehr Steuergerechtigkeit. Natürlich hat die Kirchheimerin auch die Wahlen in ihrem Herkunftsland, der Slowakei, beobachtet und freut sich, dass dort die Wahlbeteiligung höher als je zuvor war und die Liberalen auch noch glatte 20 Prozent einfahren konnten. In Deutschland jedoch sieht die Wirtschaftsfachfrau Wolken am Horizont: „Ich bin in Sorge, dass in unserem Land die Lichter ausgehen“, meint sie im Blick auf die kommende Wirtschaftskrise. Im Landkreis sei vereinzelt bereits Kurzarbeit angemeldet. „Wohlstand ist kein Selbstläufer“ mahnt sie und weist auf die große Verunsicherung in der Automobilindustrie hin, die vor lauter Klimapolitik zu wenig Beachtung finde.

Ein „super Ergebnis“ hätten die Grünen auf allen Ebenen und so auch in Europa erzielt, freut sich der grüne Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel. Eine von vielen Folgen sei das wachsende Gewicht bei der Frage, wie Deutschland europapolitisch regiert werde. Dass man sein Wahlergebnis verdopple, komme wahrlich nicht oft vor. Dies zeuge von großem Vertrauen der Bürger, bedeute aber auch ein hohes Maß an Verantwortung: „Vertrauen ist immer nur geliehen“, warnt Matthias Gastel. Die Wähler würden nun auch erwarten, dass es beim Klimaschutz vorangehe und beispielsweise eine einheitliche Besteuerung von Flugbenzin zustande komme sowie noch andere Punkte mehr. Die Stimmung unter den Grünen habe er schon bei den Wahlständen als ausgesprochen gut empfunden, der Zuspruch der Bevölkerung war groß. Auch er selbst als Verkehrsexperte fühle sich in seiner Politik bestätigt: Verkehrspolitik sei nicht zuletzt im Rahmen der Klimapolitik von zentraler Bedeutung. Gastel mahnt an, dass auch dringend ein konkretes Enddatum für fossile Verbrennungsmotoren fixiert werden müsse. ist