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Bürgermeister sollten Einwohner bespitzeln

Was ein vertraulicher Fragebogen zur „Erbgesundheit“ über die „Euthanasie“ preisgibt

Im Dokumentationszentrum in Grafeneck ist unter anderem dieses Plakat zu sehen, mit dem der nationalsozialistische Staat die Töt
Im Dokumentationszentrum in Grafeneck ist unter anderem dieses Plakat zu sehen, mit dem der nationalsozialistische Staat die Tötung „unwerten Lebens“ mit einem einfachen Rechenbeispiel rechtfertigen wollte.Foto: Andreas Volz

Kirchheim. Brigitte Kneher liegt die Kopie eines vertraulichen Schreibens vor, das die „Direktion der Heilanstalt Weissenau“ am 6. Januar

Andreas Volz

1940 an den Kirchheimer Bürgermeister geschickt hat. Es handelt sich um ein maschinell erstelltes Formular, in das Namen und Geburtsdaten von Hand einzufügen waren. Es zeigt, wie gründlich die Anstalten damals vorgingen, um jedes kleine Detail zu erfahren, das im Sinn des „Erbgesundheitsgesetzes“ als eine der „Grundlagen der Rassenpflege des nationalsozialistischen Staates“ wichtig sein konnte.

Im Schreiben geht es um Nachfragen in einem konkreten Fall, „zwecks erbbiologischer Bestandsaufnahme der Anstaltsinsassen und ihrer Sippen“. Die Behörde, in diesem Fall der Bürgermeister, wird auf die Mitwirkungspflicht aufmerksam gemacht. „Jedes Verschleiern u. Schönfärben, auch Übergehen von gemachten Wahrnehmungen“ widerspreche dieser Pflicht. Offensichtlich hatten viele Bürgermeister die Kooperation verweigert. Nur so ist die Formulierung zu erklären, eine Amtsperson solle nicht „von der falschen Ansicht“ ausgehen, „es sei Pflicht des Bürgermeisters und im Jnteresse der Gemeinde liegend, eine Einzelperson oder Familie zu schonen und ihr helfen zu müssen, den Anforderungen des Gesetzes zu entgehen.“

Gefordert wird sogar eine Art Bespitzelung: Es seien „nicht die – oft zurückhaltenden – Angaben der Angehörigen massgebend, vielmehr sind, wenn die Verhältnisse nicht amtsbekannt sind, Erhebungen anzustellen, insbesondere durch Befragen von vertrauenswürdigen Personen.“ Es ist davon auszugehen, dass mit den „vertrauenswürdigen Personen“ Nachbarn gemeint sind oder auch Personal in Läden und Wirtschaften. Möglicherweise ist auch an Lehrer gedacht. Pfarrer dagegen dürften bei dieser Frage nicht immer als „vertrauenswürdig“ gegolten haben.

Von einer möglichen Tötung wird natürlich nichts geschrieben, aber die „Unfruchtbarmachung“ wird offen angesprochen. Es sei sogar eine Frage der Ehre, sich dem Programm nicht zu verweigern: „Krankheit ist ein Unglück und gereicht niemand zur Unehre. Ehrenhaft ist es aber, seine Krankheit nicht auf andere zu übertragen und zu diesem Zweck sich den vom Gesetz geforderten Massnahmen zu unterziehen.“

Die konkreten Fragen sind ziemlich heftig. Es sind insgesamt drei Fragekomplexe, die unter anderem durch eine große Detailfreudigkeit auffallen. Die erste Frage lautet: „Finden sich bei den Eltern, Grosseltern, Geschwistern oder den Nachkommen dieser Personen Geistesstörungen, wie Schizophrenie, manisch-depressives Jrresein, Epilepsie, Schwachsinn, Taubheit oder absonderliches Verhalten, Eigentümlichkeiten, Trunksucht?“

Es ist erstaunlich, was da so alles in einen Topf geworfen wird. In der zweiten Frage geht es um bestehende Suizidgefahren und um Klinikaufenthalte: „Sind insbesondere Fälle von Selbstmord, von Einweisung in Jrren­anstalten, in die Universitätsnervenklinik Tübingen oder ähnlichen Anstalten bekannt?“

Die dritte Frage wiederum lässt sich auf gar keinen Fall mehr mit dem Thema „Gesundheit“ in Verbindung bringen. Hier geht es nur noch um das Sozialverhalten einzelner, das den Machthabern ein Dorn im Auge sein konnte: „Sind Fälle von Vagabundieren, oder Arbeitsscheu, von Konflikten mit dem Strafgesetz vorgekommen. War Fürsorgeerziehung angeordnet?“ Für alle drei Fragen galt der Zusatz: „Wenn ja: genauer Name, Zeit, Anstalt, Gericht etc . . .“

Im vorliegenden Fall ist zum Glück nur das Anschreiben empörend. Heute zumindest muss es jeden empören, der das liest, und auch damals hätte es die Menschen empören müssen. Allerdings darf man nicht vergessen, dass der nationalsozialistische Staat seine ungeheuerlichen Aussagen zur „Erbgesundheit“ auf allen möglichen Wegen verbreitete: über gleichgeschaltete Medien – also Zeitungen und Rundfunk – sowie in der Erziehung. Von der Schule bis zur Universität wurden „Rassenpflege“ und „Erbgesundheitslehre“ auf diese Weise vermittelt. Die „Massnahmen“ anzuzweifeln, kam somit längst nicht jedem in den Sinn.

Erfreulicherweise aber findet sich in diesem Schreiben zu jedem der drei Fragekomplexe der handschriftliche Vermerk „(hier) nichts bekannt“. Die Antworten aus dem Kirchheimer Rathaus stammen vom 8. Januar 1940. Das Schreiben wurde also umgehend beantwortet – wenn auch nicht unbedingt im Sinn des Absenders. Mit einer langen Befragung oder Bespitzelung des Umfelds hat man sich wohl gar nicht erst aufgehalten.