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Das geistliche WortSich öffnen

Die „menschliche Fähigkeit zur gemeinsamen geteilten Aufmerksamkeit“ ist nach dem renommierten Anthropologen Michael Tomasello das, was den Mensch zum Menschen macht. Unsere nächsten tierischen Verwandten, die Schimpansen, können viel, aber eins können sie nicht: Sie können sich nicht in einen anderen Schimpansen hineinversetzen. Für einen Schimpansen gibt es immer nur eine Welt, nämlich seine eigene.

Menschen aber können mitein-ander sprechen. Vor allem können sie miteinander über dieselbe Sache sprechen und wissen dabei ganz genau, dass der andere dieselbe Sache sieht, aber sie doch nicht genauso sieht wie ich. Wir Menschen haben gelernt: Wenn wir irgendetwas bewältigen wollen, das wir nicht alleine schaffen, dann müssen wir uns mitteilen und uns darüber verständigen, wie es gelingen kann. Und dazu brauchen wir die Fähigkeit, uns in den anderen hineinzuversetzen. Denn nur, wenn ich bereit bin, meine Sicht der Dinge zu öffnen für die Sicht der anderen und sie einbeziehe in mein Denken und Empfinden, nur dann kann Übereinkunft geschehen, können Lösungen, die für alle gangbar sind, gefunden werden.

Sich in den anderen hineinversetzen – das ist eine kaum zu überschätzende Errungenschaft für unser ganzes zivilisatorisches Wertesystem. Es ist geradezu die Grundlage dafür. Ganz kurz und universal ist diese Basis aller Maßstäbe in der „Goldenen Regel“ formuliert, so wie sie von Jesus überliefert ist: „Handelt allen Menschen gegenüber so, wie ihr es von ihnen euch gegenüber erwartet!“ (Lukas 6,31).

Wenn in letzter Zeit manchmal ziemlich nebulös von abendländisch christlichen Werten die Rede ist und die politischen Gegner sie wechselseitig voneinander einfordern, dann muss klar sein: Genau diese Fähigkeit, nicht bei sich selber zu bleiben, ist ein fundamentaler Zug der Christlichkeit! Bei Jesus ist das so pointiert, dass er sogar die Feindesliebe zum eigentlichen Prüfstein dieser Christlichkeit macht. Denn es ist – so sagt er – keine Kunst, die zu lieben, die sowieso auf meiner Seite sind.

Damit ist ganz gewiss nicht gemeint, dass man jeden und jede sympathisch finden oder kritiklos akzeptieren soll. Aber es ist doch gemeint: Auch der andere, der Fremde, der Gegner hat Motive, die ich wahrnehmen müsste. Also: Sich in den anderen hin-einversetzen! Es ist nach christlichem Verständnis die Grundbewegung, die Gott selbst in Jesus Christus uns gegenüber vormacht und die wir an Weihnachten feiern: Gott wird Mensch, versetzt sich in unser menschliches Wesen hinein, damit wir begreifen, dass wir ihm trauen können. Bereit sein, sich in den anderen hineinzuversetzen – diese denkwürdige menschliche Errungenschaft wird die Voraussetzung für alles künftige menschliche und friedliche Miteinander sein.

 

Jochen Maier Pfarrer an der evangelischen Martinskirche in Kirchheim