Weilheim · Lenningen · Umland

Den verhassten Nachbarn zu Boden gestoßen – oder doch nicht?

Das Stuttgarter Landgericht musste sich mit einem eskalierten Nachbarschaftsstreit in Dettingen befassen

Mit Fußtritten und Faustschlägen soll ein 65-jähriger Hausbesitzer in Dettingen gegen seinen verhassten Nachbarn vorgegangen sein. Der Vorwurf: Er hat ihn zu Boden geworfen und schwer am Kopf verletzt. Die Frage vor dem Stuttgarter Landgericht war, ob der Sturz die Folge der Schläge war – oder nicht.

Dettingen/Stuttgart. Was zunächst aussah, wie ein ganz normaler Nachbarstreit, hatte sich offensichtlich am 5. Juli vergangenen Jahres zu später Stunde vor einer Dettinger Wohnsiedlung zu einer ernsthaften Angelegenheit entwickelt. Ein 65-Jähriger hat seinen 79 Jahre alten Hausnachbarn unmittelbar angegriffen, als dieser an seiner Haustüre vorbeigegangen war. Unterstützung soll der Angreifer noch von seinem Hund bekommen haben, der sich bellend zwischen die beiden Streithähne platzierte. Es habe erst einen Fausthieb gegen das Opfer gesetzt, dann Tritte, dann einen kräftigen Stoß von hinten, so der Vorwurf.

Die Folge: Der 79-Jährige fiel um und zwar so unglücklich, dass er mit dem Kopf auf die harte Straße knallte und neben einem Nasenbeinbruch, einen Sehnenriss und mehreren wuchtigen Platzwunden und Schürfverletzungen im Gesicht erlitt. Obendrein mussten die Ärzte im Krankenhaus auch noch Augenverletzungen und einen ausgebrochenen Kieferzahn behandeln.

Doch spielte sich an jenem 5. Juli das Geschehen tatsächlich so ab? Die Richter des Kirchheimer Amtsgerichts hatten keinen Zweifel und verurteilten den 65-Jährigenw wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu 6 300 Euro Geldstrafe. Zusätzlich musste der 65-Jährige im Wege einer Adhäsionsklage 3 000 Euro Schmerzensgeld an den 79-Jährigen zahlen. Das passte dem Verurteilten allerdings überhaupt nicht. Er fühlte sich unschuldig verurteilt und ging in die nächste Instanz. Seiner Version des Tathergangs: das Opfer wurde gar nicht von ihm zu Boden gestoßen, vielmehr sei der 79-Jährige erst viel später gestürzt und habe sich dabei so schwer verletzte. So jedenfalls schilderte es der Angeklagte in seiner jetzigen Berufungsverhandlung vor dem Stuttgarter Landgericht, was die Richter somit mit dem Umstand einer Aussage gegen Aussage konfrontierte.

Der Fall war bereits beim Stuttgarter Oberlandesgericht anhängig, nachdem zuvor eine andere Berufungskammer das Strafmaß gegen den Angeklagten von 6 300 auf 6 000 Euro senkte. Dabei seien jedoch gravierende juristische Fehler geschehen, vor allem der, dass die Richter zur Feststellung der schweren Verletzungen keinen medizinischen Gutachter zu Rate zogen, sondern sich auf eigene „Sachkunde“ verließen.

Den Fehler korrigierte nun die Berufungskammer in der dritten Instanz, idem sie einen Sachverständigen zu Rate zog, der dann in dieser neuen Verhandlung eindeutig zu dem Ergebnis kam, dass das Opfer nicht durch die recht unsanfte Behandlung des 65-jährigen Angeklagten zu Fall kam, sondern erst später gestürzt sein muss. Diese Feststellung klärte auf, dass einer der beiden Kontrahenten, die übrigens schon seit vielen Jahren im Clinch liegen, nicht die Wahrheit sagte. Die Folge war, dass das Gericht dem Opfer zwar nicht unbedingt eine Falschaussage unterstellte, aber dennoch „im Zweifel“ davon ausging, dass der 65-jährige Angeklagte für den Fall nicht verantwortlich sein kann.

Aufgrund der Vielzahl von Widersprüchen war eine Aufklärung für die 31. Strafkammer somit nicht gegeben, sodass der Angeklagte vom Körperverletzungsvorwurf freigesprochen wurde. Das hieße aber nicht, so das Gericht, dass er erwiesenermaßen unschuldig sei, sondern man habe den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ anwenden müssen.

Noch beim Hinausgehen aus dem Stuttgarter Gerichtssaal gifteten sich der Angeklagte und sein Nachbar verbal heftig an.