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Dennerlein flirtet mit der Steinmeyer-Orgel

Die Jazzmusikerin begeistert das Publikum in Maria Königin mit ungeheurer Virtuosität und Kreativität

Kirchheim. In den Siebzigerjahren gelang es dem Club Bastion, den damals weltbesten Jazzorganisten Jimmy Smith nach Kirchheim zu locken.

Ernst Leuze

Der müsste doch auf der Orgel der Martinskirche spielen, meinten die wackeren Schwaben. Die Kirchenleute waren weniger amused: Jazz in der Kirche – igitt! Dann stellte sich heraus, dass Smith mit der Pfeifenorgel aber auch gar nichts am Hut hatte. Seine Musik-Mathematik ging nach der Formel Orgel = Hammond. Jimmys Auftritt in Kirchheim (Bastion) war in jeder Beziehung einmalig. Barbara Dennerlein dagegen, künstlerische Erbin des amerikanischen Orgelgiganten, spielte am vergangenen Samstag schon zum zweiten Mal in Kirchheim. Jedoch nicht auf ihrer Hammond, mit der ihre Weltkarriere begann, sondern auf der Steinmeyer in Maria Königin. Dort wird Jubiläum gefeiert. Seit einem halben Jahrhundert steht diese Gemeinde für architektonischen Wagemut, ökumenische und musikalische Offenheit und vieles andere mehr, was das Leben in der Stadt entscheidend bereichert.

Nun also Barbara Dennerleins Orgelabend. Dieses Ereignis hatte sich in der Szene schnell herumgesprochen. So war es kaum verwunderlich, dass die zum Teil von weit her angereisten Fans zusammen mit den bunt gemischten Regionalbesuchern die Kirche fast bis zum letzten Platz füllten. Bis auf ganz wenige Einzelne, die sich im falschen Film fanden, erlebten die erwartungsvollen Besucher zwei Stunden lang Orgelmusik – natürlich ausschließlich aus dem Genre des Jazz, die sie von Anfang bis Ende völlig in den Bann schlug. Das ist selbst bei einer Musikerin mit Weltgeltung nicht selbstverständlich. Barbara Dennerlein hätte am Abend ihres Auftrittes anreisen und ihre Show aus dem Ärmel schütteln können. Bei über hundert Konzerten im Jahr hätte ihre Routine dazu auch völlig ausgereicht. Doch mehr als acht Stunden hat sie schon am Freitag mit der Orgel verbracht, minutiös jede Registrierung vorbereitet, sich auf den Raum und das Instrument eingestellt. Wo bleibt da die improvisatorische Freiheit, könnten da Jazzkenner zu Recht einwerfen. Doch im Konzert konnte man erleben, dass sich gewissenhafteste Vorbereitung und Spontanität bei der Dennerlein überhaupt nicht ausschließen. In jedem Moment war beides zu spüren, genau ausgehörte Klangfarben, stupende spielerische Perfektion, die noch nicht einmal durch die herbstliche Kälte beeinträchtigt wurde, und – das Wichtigste – eben jene unabdingbare musikalische Wachheit in jeder Sekunde, ohne die sich kein Jazzmusiker auf die Bühne wagen darf. Auch schon tausend Mal gespielte Piecen wirkten taufrisch, wie aus dem Augenblick geboren; so konnte man es auch verschmerzen, dass fast den ganzen Abend lang die spieltechnisch-musikalische Struktur immer gleich blieb. Basslinie im Pedal – häufig nach Hammond-Usus mit dem hochvirtuosen linken Fuß alleine exekutiert – Harmonie samt Rhythmus in der linken Hand, meist mit dem famosen Prinzipal acht Fußregister gestaltet, die meist irrwitzig bewegliche Solo-Stimme mit der rechten Hand auf dem abwechslungsreich registrierten zweiten Manual, oft mit dazugekoppeltem Schwellwerk. War es schon bei den bluesigen Stücken so, dass die Organistin auf diese Weise eine ganze Big Band in die Orgel zauberte, so erschien besonders die gut geölte Begleitmaschine von linke Hand und Pedal bei den Titeln im Latino-Stil wie reine Hexerei.

Eine ganz andere Welt eröffnete sich, als die Künstlerin eine ihrer Eigenkompositionen spielte – ursprünglich für Sinfonieorchester geschrieben – und nun für die Orgel adaptiert. Hier wurden wir Zeugen einer grandiosen Kreativität, die vor keinem Risiko zurückscheut. Barbara flirtete regelrecht mit der Steinmeyer-Orgel, grummelte in den tiefsten Tiefen, zirpte in den höchsten Höhen, für Ältere bis über die Hörgrenze, da traktierte sie die Pedale wie eine Bassgitarre und das Schwellwerk wie einen Schlagbass in musikalische Verzückung. Da verwandelte sich der Pfeifenwald in ein brüllendes Tier, so widerwärtig beharrlich, dass es einem vorkam, als ob die Welt unterginge. Keiner der Zuhörer hätte solche Musik, am Radio etwa, länger ausgehalten, doch die ungeheure Präsenz der Organistin entfachte auch nach diesen extremen Klängen Begeisterungsstürme.

Kein Wunder, dass die Künstlerin ihr Publikum ausgiebig lobte (vielleicht eine Spur zu viel), aber vor allem die Steinmeyer-Orgel in den höchsten Tönen pries. Völlig zu Recht! „Der kann man alles zumuten“, meinte die Virtuosin; das war so grundehrlich gemeint, so begeistert und frei von jeder Routine, dass einem dabei das Herz aufging. Doch auch ihr kann man alles zumuten, hatte die Orgel darauf bemerkt – nein, sie hat es ausgedrückt in ihrer eigenen wunderbaren Tonsprache. Wo bei der Hammond-Orgel mit den Tasten nur Kontakte betätigt werden, müssen Spieler einer Pfeifenorgel Drähte, Stäbe, Winkel, Federn und Ventile bewegen. Welche Schwerarbeit!

Genauso selbstverständlich und anmutig wie die Tastenathletik, meisterte Barbara Dennerlein auch die verbindenden Zwischentexte, wobei es schön war, dass die Orgelspielerin nicht, wie so oft in Kirchen, auf eine Empore entrückt war, sondern Auge in Auge mit ihren Zuhörern sprechen konnte. Das tat sie dann nach dem Konzert beim Verkauf ihrer vielen CDs auch noch mal geduldig und freundlich wie zuvor. Ich möchte fast wetten, dass Barbara Dennerlein nicht das letzte Mal in Maria Königin gespielt hat.