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Der Kältebus bringt Wärme in eisige Nächte

Hilfe Frostige Temperaturen bedeuten Lebensgefahr für obdachlose Menschen. Kay Müller und sein Team in Esslingen versorgen sie mit dem Nötigsten. Von Sandra Belschner

Zusammengerollt liegt der ältere Mann auf einer Isomatte in einer Nische unter der Treppe – mitten in der Esslinger Innenstadt. Die Mütze tief über das Gesicht gezogen, versucht er, sich vor der eisigen Kälte zu schützen. Wenige Meter entfernt machen sich junge Menschen in die Freitagnacht auf. Ein Paar verlässt mit seinen Wochenendeinkäufen den Supermarkt und eilt vermutlich in seine warme Wohnung. Ohne Kay Müller hätte niemand den Mann, der neben der viel befahrenen Straße zwischen Glasscherben und anderem Müll sein Lager aufgeschlagen hat, in dieser Nacht bemerkt. „Die meisten wollen nicht gefunden werden“, sagt der 36-Jährige. Trotzdem weckt Müller jeden Obdachlosen, den er findet.

Vor sechs Jahren ins Leben gerufen

Vor sechs Jahren hat Kay Müller vom DRK-Ortsverein den Kältebus – der, weil das Geld fehlt, nur ein Kälteauto ist – in Esslingen ins Leben gerufen. „Aus der Not heraus“, erzählt er. Beim Pendeln seien ihm die Obdachlosen aufgefallen. Wo viele wegschauen, handelt Müller. Er organisiert die Hilfe und versorgt Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Müller kennt das Angebot, obdachlose Menschen in kalten Nächten ambulant mit dem Nötigsten zu versorgen, aus seiner Arbeit als Notfallsanitäter in Stuttgart. In Esslingen habe in der Vergangenheit der Erfrierschutz der Evangelischen Gesellschaft für die Hilfe ausgereicht. Die stieß allerdings während der Coronapandemie an ihre Grenzen, weil in der Notunterkunft nur ein Drittel der Betten belegt werden konnte. „Das Thema Kältebus wurde plötzlich auch in Esslingen immer aktueller“, berichtet der Sanitäter.

„Hallo, geht’s dir gut? Möchtest du etwas Warmes essen?“, fragt Müller den Mann unter der Treppe. Es dauert einen Moment, bis dieser wach wird und die Situation erfasst – was vor allem an den wenigen Worten Deutsch liegt, die er spricht. Routiniert zeigt Müller auf einen der mit Lebensmitteln gefüllten Körbe, dann nickt der Mann, und kurze Zeit später ist ein sanftes Lächeln hinter der dampfenden Nudelterrine zu erkennen.

Etwa 30 Obdachlose in Esslingen

Lange dauert es nicht, bis Müller von einem anderen Mann angesprochen wird. „Deshalb tragen wir die Westen, damit die Leute uns erkennen“, erklärt er. Der Mann wirkt aufgebracht, verwirrt und spricht eine Sprache, die Müller nicht versteht – und wieder reagiert er mit routinierter Gelassenheit: Er holt sein Smartphone aus der Tasche und fragt den Mann per Übersetzungsapp, ob er einen Schlafplatz für die Nacht habe. Dann stellt sich heraus: Der Mann ist wegen seines schlechten Benehmens und seines Alkoholproblems aus der Unterkunft der Eva geflogen. Müller holt ihm eine Isomatte und einen Schlafsack aus dem Kältebus, dann geht es weiter.

Mittlerweile ist es kurz vor Mitternacht, das Thermometer zeigt minus vier Grad an. Heute Nacht draußen schlafen? Für die meisten Menschen unvorstellbar. Für etwa 30 Obdachlose in Esslingen ist das Alltag. Zumindest weiß Müller von dieser Anzahl.

Dass es mehr sind, sei sehr wahrscheinlich. Doch anders als in anderen Städten seien die Obdachlosen hier sehr verstreut und es gebe keine U-Bahn-Stationen als Schutz, sagt Anja Wessels-Czerwinski vom Erfrierschutz der Eva. Deshalb gleiche die Arbeit mit dem Kältebus auch einer Sisyphusarbeit, sagt Kay Müller. Man verbringe in der Nacht viel Zeit mit Suchen. In den vergangenen Jahren haben sich allerdings Orte in Esslingen herauskristallisiert, an denen der Sanitäter mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Bedürftige trifft: Vorräume von Banken, versteckte Winkel in Parkhäusern und unter Brücken. Trifft er dort keine Obdachlosen an, geht es „auf Streife“ durch die Stadt.

Oder Müller geht Hinweisen aus der Bevölkerung, der Polizei oder von anderen Ehrenamtlichen nach. Die 30 Helferinnen und Helfer, die etwa alle zwei Tage in frostigen Winternächten mit dem Kältebus unterwegs sind, organisieren sich in einer Whatsappgruppe. „Wir fahren jetzt ein bisschen raus, weil ein Kollege uns einen Tipp gegeben hat“, sagt der 36-Jährige. Auf dem Rückweg zum DRK-Haus geht es noch einmal zu dem Mann, der bis vor Kurzem bei der Eva unterkam. Er hatte Müller verraten, wo er diese Nacht verbringen will. Gut versteckt hat der Mann die Isomatte ausgerollt, die er Stunden zuvor vom Team des Kältebusses erhalten hat. Mit den Obdachlosen in Verbindung zu bleiben ist Kay Müller wichtig.