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„Der Westen muss jetzt Stärke zeigen“

Ukraine   Renata Alt sieht die Anrainerstaaten mit der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Kriegsgebiet überfordert.

Kirchheim. „Ich weiß nicht, wo ich meinen Optimismus hernehme“, sagt Renata Alt. Die FDP-Bundestagsabgeordnete aus Kirchheim bringt damit zwei wichtige Punkte zum Ausdruck: Objektiv besteht derzeit angesichts des Ukraine-Kriegs keinerlei Grund zum Optimismus. Trotzdem bleibt sie davon überzeugt, dass sich längerfristig alles zum Guten wenden kann. Grundvoraussetzung dafür ist entschlossenes Handeln des Westens.

Renata Alt ist Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Menschenrechte sieht sie in der Ukraine tagtäglich verletzt: „Wenn zivile Objekte angegriffen werden, dann sind das Kriegsverbrechen.“ Jetzt gehe es darum, solche Verbrechen zu dokumentieren und Beweise zu sammeln – „und dann muss Russland vor dem Internationalen Gerichtshof dafür zur Rechenschaft gezogen werden.“

Was die humanitäre Hilfe betrifft, sagt Renata Alt betont sachlich: „Die Welle hat noch nicht einmal angefangen.“ Die nächsten Anrainerstaaten – Polen, die Slowakei und Ungarn – seien recht schnell überfordert. „Von den gut fünf Millionen Einwohnern in der Slowakei leben rund eine Million Menschen an der Existenzgrenze. Das Land schafft es nicht, 500 000 Menschen aus der Ukraine aufzunehmen.“ Und dann rechnet sie vor, dass 500 000 Menschen nicht viel mehr als ein Prozent der gesamten ukrainischen Bevölkerung darstellen. Ihr Fazit: „Wir stehen da vor einer ganz anderen Wucht als in der Flüchtlingskrise 2015.“

Europa stehe gleich vor vier Fluchtbewegungen: „Wir haben ja nicht nur die Flucht aus der Ukraine, sondern auch eine aus Russland. Viele Menschen dort haben erkannt, dass der Weg Russlands in eine totalitäre Diktatur führt.“ Wenn die Weizenlieferungen aus der Ukraine kriegsbedingt ausbleiben, sei zudem mit einer Hungersnot zu rechnen, die sich zunächst in Afrika zeigen werde: „Das führt zu weiterer Flucht. Hinzu kommt noch die Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan.“ Was bislang wenig thematisiert wird, irritiert Renata Alt in starkem Maße: „An den Grenzübergängen von der Ukraine in EU-Länder werden auch Leute eingeschleust, mit denen man nicht gerechnet hat – Menschen, die weder Ukrainisch noch Russisch noch Englisch sprechen. Woher kommen die? Das führt noch zu einem großen Problem.“

Integration wird honoriert

Eines habe man in Europa aus dem Bosnien-Konflikt gelernt: „Es gibt jetzt neue Richtlinien. Wer integriert wird, muss nicht mehr zurückkehren. Das honoriert die große Bereitschaft von Handwerksbetrieben zur Ausbildung und Integration.“ Der Balkan ist für Renata Alt eng mit der Ukraine verknüpft: „Die EU muss auf dem Westbalkan agieren. China und Russland haben dort längst ihren Fuß in der Tür. Wie kann die EU den Bau der Infrastruktur auf dem Westbalkan den Chinesen mit ihren Knebelverträgen überlassen?“

An China gehen ihrer Ansicht nach auch die russischen Rohstoffe, wenn Europa sie nicht mehr abnehmen sollte: „Dann wird bei uns alles teurer, aber nicht in China. Da stehen wir vor einer ganz großen Gefahr für unsere globale Wettbewerbsfähigkeit.“ Europa müsse sich viel breiter aufstellen in der Produktion, um weniger abhängig zu sein von Importen: „Mit Flüchtlingen und Rohstoffen kann Putin uns treffen – und das nutzt er gnadenlos aus.“

Putin mache die Städte im Donbas und in Luhansk zu russischen Städten, indem er seine eigenen Leute dort ansiedelt, wo die Ukrainer geflohen sind. Deswegen gibt es für Renata Alt nur eins: „Wir müssen Stärke zeigen, auch um zu verhindern, dass Putin als nächstes Moldawien und Georgien angreift.“          Andreas Volz