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Der Wunsch nach dem Mauseloch

Reformationstag Wilfried Härle, früher Professor für Systematische Theologie in Heidelberg, sprach auf Einladung des Evangelischen Bildungswerks in der Nürtinger Stadtkirche über die Scham. Von Peter Dietrich

Nur 30 Besucher konnten coronabedingt zu dem Vortrag von Wilfried Härle  über das Thema Scham in die Nürtinger Stadtkirche kommen. Auch die Tradition, am Reformationstag gemeinsam das Luther-Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu singen, entfiel, stattdessen gab es vier Orgelimprovisationen von Bezirkskantor Hanzo Kim über dieses Lied.

 

„Entscheidend ist, ob wir durch unsere Scham unser Handeln bestimmen lassen.

Dr. Wilfried Härle

 

Bildungsreferent Markus Geiger musste nicht lange ins Thema einführen: Dass einem etwas Peinliches passiert ist, dass einem die Schamesröte ins Gesicht steigt, das kennt fast jeder. „Wir wollen bei diesem Gefühl nicht angeschaut, angestarrt werden“, sagte Wilfried Härle. „Wir wollen uns am liebsten in ein Mauseloch verkriechen.“

Zu den körperlichen Reaktionen der Scham gehörten ein trockener Mund oder feuchte Hände, manche Menschen begännen zu stottern. „Das wird von anderen wahrgenommen, man kann es nicht abstellen, das ist ein ganz unangenehmer Gefühlszustand.“ Das drücke das Wort „peinlich“ aus, das von Pein, also dem Leiden komme. „Das ist ja voll peinlich“, heiße es in der Jugendsprache, in der Pubertät beziehe ich das oft auf die Eltern. In der Entwicklung des Menschen sei die Scham eines der ersten Missgefühle, das ein Kind erlebe, es „fremdelt“.

Es gebe eine soziale Scham wie das Gefühl, keine Gäste in die ärmliche Wohnung einladen zu können. Scham könne sich nicht nur auf sich selbst, sondern auch aufs Lebensumfeld beziehen, etwa auf den Großvater im Dritten Reich, oder einen Alkoholiker in der Familie. Dafür gebe es den Begriff „Fremdschämen“. „Nach dem Zweiten Weltkrieg war das als ,Kollektivscham‘ in der Diskussion.“

Es gebe aber genauso die Scham wegen etwas ganz Positives: Jemand werde wegen einer guten Tat gelobt und wolle nicht, dass dies veröffentlicht werde. Um letzteres geht es beim Apostel Paulus, wenn er in seinem Brief an die Christen in Rom schreibt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“

Geschämt haben sich schon Adam und Eva im Paradies: Der Schlange war es gelungen, ihr Misstrauen gegen Gott zu wecken, sie aßen von der verbotenen Frucht, und plötzlich fiel den beiden zuvor Unbekümmerten auf, dass sie ja nackt waren. Die Beiden versuchten es etwas unbeholfen mit Feigenblättern, bis der Schöpfer sie mit „Röcken von Fellen“ versorgte. Was bedeutet es, wenn Jesus von Nazareth sagte, wer sich seiner schäme, dessen werde er sich bei seiner Wiederkunft ebenfalls schämen? „Wer sich eines anderen schämt, der will nichts mit ihm zu tun haben, der kündigt die Beziehung auf.“ Bei Petrus sei die Verleugnung nicht das Ende: Dreimal habe dieser verschämt geleugnet, Jesus überhaupt zu kennen, dreimal habe der Auferstandene ihn später gefragt: „Hast du mich lieb?“

Scham sei kein abstellbares Fehlverhalten. „Entscheidend ist, ob wir durch unsere Scham unser Reden und Handeln bestimmen lassen.“ Wie zeigt sich, dass es so ist? Etwa dann, wenn jemand schweigt, obwohl er reden müsste. Wenn einer für die Stummen und Verlassenen nicht den Mund auftut - vielleicht deshalb, weil er absehen kann, dass er ebenfalls gemobbt wird, wenn er sich an die Seite eines Opfers stellt. Manchmal, wenn dies Mut erfordere, könne schon der Besuch eines Gottesdienstes ein Zeichen sein, dass sich einer des Evangeliums nicht schäme. Es könne auch ein Zeichen sein, wenn er einer dem anderen zum Geburtstag „Gottes Segen“ wünscht.

Viele Muslime stünden viel unbefangener zu ihrem Glauben, beobachtet der Professor. Davon könnten Christen lernen und sich in Gesprächen über Konsens freuen, aber genauso Gegensätze benennen. Zum Schluss zitierte Härle Eckart von Hirschhausen: Wenn sich der Mensch nicht mehr für Gott interessiere, dann hoffe er, dass dies nicht auf Gegenseitigkeit beruhe, hatte dieser bemerkt. Laut Bibel sei das nicht der Fall: Gott schäme sich der Menschen nicht. Das sei der schönste Vers seines Vortrags, sagte Wilfried Härle bei diesem Zitat aus dem Hebräerbrief.

4 Eine Aufzeichnung des Vortrags steht der Homepage des Evangelischen Bildungswerks unter www.ebiwes.de