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Die Betreuung wird zur Gratwanderung

Corona Für Menschen mit Behinderung und Kindergartenkinder gilt es besonders, zwischen Fürsorge, Freiheit und Unsicherheit abzuwägen. Von Julia Nemetschek-Renz

Wir stehen wieder kurz vor einem Lockdown, die Fallzahlen steigen. Was bedeutet Corona für Ihre Arbeit bei der Lebenshilfe?

Benjamin Langhammer: Na, ganz konkret heißt das, dass mich meine Arbeit jetzt auch zu Hause überfällt. Auch abends und am Wochenende muss ich entscheiden: Kann der Heilerziehungspfleger die Nachtschicht auch mit Halsweh machen? Was ist, wenn eine Bewohnerin unbedingt einkaufen gehen will. Darf sie?

Ist dieses Rund-um-die-Uhr-Arbeiten nicht sehr anstrengend?

Langhammer: Nein, das ist nicht das Anstrengendste. Arbeit und Nachtschicht bin ich gewöhnt. Es ist so schwierig, gute Entscheidungen zu treffen. Es ist ja genau richtig, dass meine Mitarbeiter nachfragen und sich Rückendeckung holen. Und natürlich habe ich die gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen als Grundlage. Aber es ist für mich immer eine Gratwanderung. Zum Beispiel das Thema Einkaufen: Was ist, wenn die Bewohnerin mit einer geistigen Behinderung eine Risikopatientin ist? Darf ich ihr dann vorschreiben, dass sie zu Hause bleiben muss? Ich nehme ihr ja dann ganz klar einen Teil ihrer Freiheit.

Martin Wirthensohn: Ja, und diese Entscheidungen zerreißen einen fast. Wann muss ich restriktiv sein? Wir haben zum Beispiel Hoch-Risiko-Kinder in der inklusiven Kindertagesstätte, und dann bekomme ich die Meldung, dass ein Vater positiv ist. Sollen wir den Kindergarten vorsorglich schließen? Das hat dann sofort Auswirkungen auf ganz viele Menschen - die Familien, die Kinder, die Mitarbeiter. Aber ich muss die Konsequenzen meiner Entscheidungen immer abwägen. So wie jeder andere Mitarbeiter auch, vom Bereichsleiter, über die Pflegekräfte bis zum Bufdi.

Langhammer: Für mich ist die Quarantäne das schwierigste Thema überhaupt. Da hab ich einen Menschen, der überhaupt nicht verstehen kann, was Quarantäne bedeutet, und der darf jetzt seine Eltern und Geschwister zwei Wochen nicht sehen. Was tun Sie da? Wie erklären Sie das?

Und was tun Sie in diesen Fällen?

Langhammer: Viel Kontakt halten und da sein, das tun wir. Anders geht das nicht. Aber was mache ich, wenn Bewohner im Zimmer in Quarantäne bleiben müssen, aber uneinsichtig sind? Raus wollen? Ultima Ratio wäre der Einschluss, der richterlich angeordnet werden muss. Diese Entscheidung treffen zu müssen und jemanden einsperren zu müssen, das wäre für mich sehr schwierig.

Wirthensohn: Bis jetzt mussten wir sie zum Glück nicht treffen. Und dafür bin ich sehr dankbar. Wir sind bis jetzt mit einem blauen Auge davon gekommen. Natürlich haben wir dafür viel getan: Zum Beispiel die Ressourcen für Schutzausrüstung bereitgestellt, die der Verein selbst finanzieren muss. Und wir haben ein umfassendes Hygienekonzept. Aber zu sagen: Uns kann das nicht treffen, das wäre ein frommer Wunsch. Es ist doch ähnlich wie mit den HIV-Infektionen in den 80er-Jahren. Wir wissen noch viel zu wenig über das Virus.

Und was meinen Sie: Wann wird endlich wieder alles normal?

Wirthensohn: So wie Anfang 2020 wird es nie mehr sein. Die Corona-Pandemie verändert unsere Gesellschaft, das Arbeiten und Zusammenleben. Diese neue Realität gut zu gestalten, ist jetzt unsere Aufgabe. Der Impfstoff ist ein Silberstreifen am Horizont, aber die nächsten Wochen werden hart, da mache ich mir nichts vor.

Und was wäre ein gutes „Anders“?

Wirthensohn: Ich verspüre den Wunsch, nicht alles opfern zu müssen, was gerade wegbricht. Klar machen wir zum Beispiel jetzt überwiegend Videokonferenzen. Aber der direkte Kontakt, die persönlichen Gespräche, die gemeinsame Mittagspause, das fehlt mir. Aber ehrlich gesagt, ich bin noch auf der Suche. Vielleicht zu lernen, uns gemeinsam im Blick zu behalten und aufeinander zu achten. Darum geht es jetzt.

Haben Sie denn am Ende des Tages das Gefühl, ihre Arbeit gut zu machen?

Wirthensohn: Das Gefühl springt mich nicht unmittelbar an. Ich muss es mir herleiten, denn oft sind Zweifel und Unsicherheit groß. Aber entscheiden bedeutet auch Orientierung geben. Besser mal eine Entscheidung revidieren als keine zu treffen, das hilft nicht weiter.

Langhammer: Ich kann immer nur wieder neu nach dem Mittelweg suchen, nach bestem Wissen und Gewissen. Anders kann ich es nicht sagen.

Hat diese Zeit eigentlich auch etwas Gutes?

Wirthensohn: Im Moment wäre das sehr konstruiert, wenn ich das sagen würde. Ich kann das Gute noch nicht so recht erkennen. Aber wir stehen alle als Team zusammen: Vorstand, Geschäftsführung und Mitarbeitende. Und das ist ein großartiges Gefühl.

Langhammer: Ja, wir haben eine hochsolidarische Mitarbeiterschaft. Wir stehen füreinander ein. Aber was diese Zeit Gutes hat? Vielleicht muss man das Positive jetzt noch nicht sehen. Das ist doch bei Krisen immer so: Die Dinge passieren, dann handelt man und in der Rückschau lässt sich vielleicht was draus lernen. Jetzt müssen wir erst mal geduldig sein.