Weilheim · Lenningen · Umland

Die große Einsamkeit des kleinen Mädchens

Renate Breslow berichtet Kirchheimer Schülern aus ihrer Kindheit und von der Flucht in die USA

Zwei Schülerinnen des Schlossgymnasiums präsentieren ihr Video-Gespräch, das sie mit Renate Breslow geführt haben.Foto: Jean-Luc
Zwei Schülerinnen des Schlossgymnasiums präsentieren ihr Video-Gespräch, das sie mit Renate Breslow geführt haben.Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Die 86-jährige Renate Breslow erzählt von ihrer Geschichte – von ihren Erfahrungen, als kleines Mädchen in Kirchheim ausgegrenzt worden zu sein, weil sie Jüdin

Andreas Volz

war. Seit vielen Jahren ist sie mit ihrer Geschichte an Schulen in Pennsylvania unterwegs, um als Zeitzeugin auf die Schrecken der Gewaltherrschaft aufmerksam zu machen. Gestern war sie erstmals an einer Schule in ihrer alten Heimatstadt Kirchheim zu Gast: virtuell, auf einer Leinwand beim aufgezeichneten Skype-Interview.

Sie erinnert sich an die schöne Zeit, als sie in Kirchheim auf ihrem Dreirad rund ums Elternhaus unterwegs war. Wo heute die Gaststätte „Wilder Mann“ ist, betrieben Gustav und Elly Reutlinger ein Kurzwarengeschäft. Unvorstellbar aus heutiger Sicht ist ihre Aussage, die eine richtiggehende Idylle schildert: „Da war ja wenig Verkehr auf der Straße.“

Zu Renate Breslows negativen Erinnerungen an die Kindheit in Kirchheim gehört die Zeit der Ausgrenzung: „Ich war damals vollständig allein. Niemand wollte mehr mit mir sprechen.“ Das galt nicht nur für gleichaltrige Kinder, sondern auch für eine ihrer wichtigsten Bezugspersonen, das Hausmädchen Sophie. „Keiner durfte mehr in jüdischen Haushalten arbeiten. Also musste Sophie uns verlassen.“ Renate Breslow erinnert sich auch an den Boykott des elterlichen Geschäfts, als Uniformierte die Kirchheimer davon abhielten, den Laden zu betreten. Und sie erinnert sich an die Ereignisse der „Reichspogromnacht“, als Menschen verschleppt sowie Wohnungen und Geschäfte geplündert wurden.

Als Kind habe sie nicht verstehen können, worum es ging. Das habe sie erst später, als Erwachsene, gelernt. Die größeren Zusammenhänge der Diskriminierung blieben ihr als Kind noch erspart: „Ich musste nur damit fertigwerden, dass ich alleine war und keine Freunde mehr hatte.“

Eine wesentliche Erinnerung ist der erste Ausreiseversuch nach Amerika: Gemeinsam mit der Mutter reiste sie im Mai 1939 auf der „St. Louis“ über den Atlantik, um in Kuba den Vater zu treffen, der Deutschland schon etwas früher verlassen hatte. Vor Kuba angekommen, erlebte sie eines Morgens ihren glücklichsten Moment während der Reise: Ihr Vater Gustav hatte die ganze Nacht am Ufer zugebracht, um sich möglichst nahe an die „St. Louis“ heranrudern zu lassen. Renate Reutlinger konnte ihren Vater sehen, aber nicht umarmen. Die kubanischen Behörden ließen die knapp 1 000 Passagiere nicht an Land. Auch in den USA gab es keine Zuflucht. Das Schiff wurde schließlich zurückbeordert nach Deutschland.

Dem deutschen Kapitän Gustav Schröder ist es zu verdanken, dass die Passagiere in Großbritannien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden von Bord gehen konnten und nicht wirklich nach Deutschland zurückgeschickt wurden, wo der sichere Tod auf sie gewartet hätte. „Kapitän Schröder war mein Held“, sagt Renate Breslow, „er hat unser Leben gerettet, indem er sich den Befehlen widersetzt hat.“

In den Niederlanden kamen Mutter und Tochter in ein Lager bei Rotterdam. Dort war es kalt und schmutzig, erinnert sich Renate Breslow. Und die Kinder hatten immer Hunger. Der Lagerkommandant half Elly Reutlinger dabei, doch noch mit ihrer Tochter auf ein Schiff in Richtung USA zu gelangen. Zum Dank – oder auch als Bestechungsmittel – erhielt er Renates Briefmarkensammlung. Es war ihre letzte greifbare Erinnerung an Kirchheim und an ihren geliebten Onkel Willi. Die Briefmarken waren dafür gedacht, dass sie sich ein bisschen mit Geschichte und Erdkunde beschäftigen konnte, nachdem sie als Erstklässlerin vom Schulunterricht ausgeschlossen worden war.

Mit der Schule ging es erst in den USA weiter – in der dritten Klasse und ganz ohne englische Sprachkenntnisse. Es sollte dauern, bis sie sich eingewöhnte in der neuen Umgebung. Eines aber vermisst sie bis heute schmerzlich: ihre große Familie, mit vielen Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen. „Das ist vorbei und lässt sich nicht wiederbringen.“

Auf die Frage der Kirchheimer Schülerinnen, ob die Vergangenheit sie in ihren Träumen verfolge, sagt Renate Breslow: „Ich spreche viel da­rüber, das verhindert schlechte Träume.“ Da mischt sich ihre Tochter Deb­ra ins Gespräch ein und bekennt, sie selbst habe schon oft vom Holocaust geträumt: „Es war furchtbar, als Kind diese Geschichten zu hören. Das gibt es oft, dass Kinder von Holocaust-Überlebenden schlecht träumen.“

Was gibt Renate Breslow den Kirchheimer Schülern mit auf den Weg? „Macht euch eure Geschichte bewusst“, sagt sie und zitiert den spanischen Philosophen George Santayana: „Diejenigen, die sich an ihre Vergangenheit nicht erinnern können, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen.“