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„Dürfen keine Ghettos schaffen“

Kirchheim braucht dringend Wohnraum für die Anschlussunterbringung von Flüchtlingen

Wer als Flüchtling in Deutschland bleiben darf, hat Glück. Doch für viele beginnen die Probleme damit erst richtig. Billiger Wohnraum im Kreis Esslingen ist rar. Das gilt auch für Kirchheim.

Büffeln für ein besseres Leben. Junge Flüchtlinge im Sprachkurs in Dettingen.Foto: Jean-Luc Jacques
Büffeln für ein besseres Leben. Junge Flüchtlinge im Sprachkurs in Dettingen.Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Ihre Gestik wird schneller, sie redet lauter. Man merkt, dass ihr das Thema wichtig ist. Von Menschenwürde ist die Rede und von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Seit wenigen Minuten erst ist Angelika Matt-Heidecker zurück vom Treffen mit Landrat und Kollegen der Großen Kreisstädte. Ein Treffen, das eigentlich ein Krisengipfel ist.

Die Situation ist dramatisch. 3 900 Flüchtlinge muss der Kreis in diesem Jahr unterbringen. Wahrscheinlich wird man nur 3 500 schaffen. Der Kreis hinkt mit dem Bau neuer Unterkünfte hinterher. Daran sind Auflagen schuld, aber auch Gemeinden, die sich noch immer weigern. Für Überzeugungsarbeit ist keine Zeit mehr. Gemeinsam mit dem Regierungspräsidium denkt man nun über neue Wege nach. „Beschlagnahmebefugnis“ heißt der Hebel im sperrigen Amtsdeutsch. Damit ließen sich kommunale Flächen auch ohne Zustimmung von Gemeinden nutzen. „Wir sind in einer Zeit“, sagt Kirchheims Rathauschefin Angelika Matt-Heidecker, „in der man zu solchen Instrumenten notfalls greifen muss.“

Die Zeit drängt auch an anderer Stelle. Die Bürokratie läuft auf Hochtouren, die Zahl der Asylbescheide wächst. Wer Bleiberecht hat, muss erst einmal gehen. Die Sammelunterkunft verlassen und in die Anschlussunterbringung wechseln. Nach spätestens zwei Jahren muss das jeder. Auch derjenige, der nur geduldet ist. Für die Kommunen, die für die Anschlussunterbringung zuständig sind, bedeutet das: Sie brauchen dauerhaften Wohnraum, der günstig ist. Doch den gibt es nicht. Zumindest nicht in Kirchheim.

Ob es sich nun rächt, dass man dieses Thema schon zu Zeiten vernachlässigt hat, als noch niemand mit einer Situation wie heute gerechnet hat? Von Vernachlässigung könne keine Rede sein, sagt Matt-Heidecker und wirkt plötzlich dünnhäutig. Verdichtung in der Innenstadt und in den Teilorten, erweiterte Bebauungspläne wie in der Eichendorffstraße hätten sozial verträglichen Wohnraum geschaffen und sollen es weiter tun. Nicht nur für Flüchtlinge, sondern generell für sozial Schwache, für junge Familien. Noch in diesem Monat soll der Notarvertrag unterschrieben werden, der den Weg frei macht für eine Neubebauung des Hallenbad-Areals. 300 städtische Wohnungen gibt es, mit einem gewaltigen Sanierungsbedarf. Dafür hat die Stadt erst kürzlich 700 000 Euro losgeeist. Zwei Millionen Euro jährlich sind vom kommenden Jahr an bis 2019 für preisgünstigen Wohnraum im Finanzplan eingestellt. Selbst im neu geplanten Steingau-Quartier, dem derzeit größten städtebaulichen Projekt in Kirchheim, soll Bauträgern mit sozialem Ansatz der Einstieg erleichtert werden. Alles Bemühungen, die eines gemein haben: Sie werden wohl nicht reichen.

Bis Ende kommenden Monats müsse ein Plan her, wie es mit der Anschlussunterbringung weitergehen soll, sagt Kirchheims Oberbürgermeisterin. An Neubauten wird kein Weg vorbei führen. Ein denkbarer Standort wäre die Fläche beim Güterbahnhof, die ein zügiges Verfahren in Aussicht stellt, weil sie der Stadt gehört. Denkbär wären stabile Holzständerbauten wie auf dem Wendlinger Otto-Areal. Auf jeden Fall eine dezent­rale Lösung mit zwei Standorten für nicht mehr als 70 Plätze. „Wir dürfen keine Ghettos schaffen“, sagt Matt-Heidecker. „Wir brauchen städtebauliche Lösungen, die langfristig sind.“

Am Montag lädt die Landesregierung in Stuttgart zu einem weiteren Flüchtlingsgipfel ein. Was sie sich davon verspricht? „Mehr Geld für Unterkunft und Betreuung“, sagt Kirchheims Oberbürgermeisterin. Unterstützung im Wohnbau, wenn es um kostspielige Energievorschriften geht. Vor allem: Tempo. Der größte Mangel herrscht an Zeit.

Solidarität

Not eint und macht erfinderisch. Dass Landkreis und Kommunen in der Flüchtlingsbetreuung enger zusammenrücken und ihre Kräfte bündeln ist wenig überraschend weil dringend geboten. Wie zügig und geräuschlos dies vonstatten geht, zeigt jedoch, wie Ernst die Lage ist. Währen die Verwaltungschefs am Neckarufer tagten, hat man im Land die prognostizierten Flüchtlingszahlen fürs kommende Jahr schon wieder nach oben korrigiert. 80 000 Menschen sollen kommen, und man wird sie unterbringen müssen. Daran führt kein Weg vorbei.

Die Not der Flüchtlinge stellt die Solidargemeinschaft auf eine harte Probe. Was das genau bedeutet, scheint in manchen Kommunen noch nicht angekommen zu sein. Nicht weniger als 20 der 44 Kreisgemeinden haben bis heute keine Flüchtlinge aufgenommen. In Erkenbrechtsweiler, Notzingen und Ohmden sind Plätze fürs kommende Jahr zumindest in Planung. Andernorts wie in Altdorf oder Altenriet tut sich weiterhin nichts, um die Quote zu erfüllen. Die Überlegungen von Landkreis und Regierungspräsidium, kommunale Flächen notfalls beschlagnahmen zu lassen, ist eine klare Botschaft, die zeigen soll: Es geht auch anders. Offenheit und Hilfsbereitschaft oder Zwangszuweisung? Die Entscheidung ist gleichbedeutend mit der Frage, ob man im Südwesten seine Chance nutzt, wie sie der prognostizierte Anstieg der Schülerzahlen belegt, oder ob das Land gesellschaftlich daran zerbricht.BERND KÖBLE