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Ein Krankenhaus mit Einmauerhilfe

Keller-Geschichte Es gibt eigenwillige Gewölbe unter der Oberfläche, Räume, die faszinieren, aber auch unheimlich sind. Dazu gehört beispielsweise das ehemalige Hilfskrankenhaus unter der Realschule in Neuffen. Von Kai Müller

Es ist eine sonderbare Steinwand, die da direkt hinter der massiven Bunkertür des ehemaligen Hilfskrankenhauses in Neuffen steht. Der Ausgang führt zur Turnhalle. Es sind zwei Stein-Reihen, durchnummeriert von 1 bis 100, einmal mit roter, einmal mit blauer Farbe versehen. Jeder der Quader hat einen Griff. „Das war ganz genau geplant“, sagt Neuffens Bürgermeis­ter Matthias Bäcker beim Rundgang durch die unterirdischen Katakomben.

Es hört sich ein bisschen wie aus einem schlechten Film an, aber diese Steine wären im Ernstfall dazu gedacht gewesen, die Tür zuzumauern. Dafür hätte es dann keinen Fachmann gebraucht, sondern nur etwas Mörtel.

 

Wir gehen jetzt mal in die Warteschleife.
Matthias Bäcker
Neuffens Bürgermeister zu einer möglichen Reaktivierung des Hilfskrankenhauses

 

Das einstige Hilfskrankenhaus in Neuffen ist ein Relikt des Kalten Krieges. Es wurde im Jahr 1965 gebaut. In Baden-Württemberg gab es zwölf solcher Krankenhäuser, die 50 Kilometer entfernt von den Großstädten angesiedelt worden waren. Neuffen und Rudersberg waren Stuttgart zugeordnet gewesen. Für die damaligen Planer und auch das zuständige Bundesamt für Zivilen Bevölkerungsschutz war ein atomar verstrahltes Württemberg nach einem Luftangriff ein mögliches Szenario. Für die Stadt Neuffen lohnte sich der Bau vor 57 Jahren. „Da hat man sich das Fundament der Schule gespart“, erzählt Bäcker. Der Neubau der 1967 eröffneten Hauptschule wurde auf das Krankenhaus gebaut. Längst ist daraus eine Realschule geworden – und auch das einstige Hilfskrankenhaus hat sich stark verändert.

An den Türen im Untergeschoss der Schule sind nach wie vor Begriffe wie „Not-Wasserversorgung“, „ABC-Entgiftung“ oder „OP I“ zu finden. In der „Ambulanz“ finden sich heute Utensilien des örtlichen Liederkranzes. Leuchtfarbe an den Wänden ermöglicht in der Dunkelheit eine Orientierung. Einige letzte Hinterlassenschaften wie Duschen an den Wänden, alte Steckdosen oder Reste von Gulaschkanonen gibt es noch. Die beiden Dieselgeneratoren seien erst vor einigen Jahren außer Betrieb genommen worden, sagt Bäcker. Zuvor hätten sie in regelmäßigen Abständen auf Herz und Nieren geprüft werden müssen. Die Aggregate hätten im Katastrophenfall das Hilfskrankenhaus mit Strom versorgt.

Die Gänge unter der Schule sind weitverzweigt. Es dürften rund 6000 Quadratmeter sein. Vier Eingänge gibt es und einen Notausstieg. Das ehemalige Hilfskrankenhaus wurde im Jahr 1983 sogar erweitert. Der zweite Bauabschnitt wurde 1984 fertiggestellt. Damals kam eine Notwasserversorgung hinzu, die über eine Zuleitung von Quellen bei der Viehweide gespeist wurde. Das Notkrankenhaus war auf rund 450 Patien­ten angelegt.

Alte Zeitungsartikel weisen allerdings auf Probleme hin. So wären 350 Betten „im ungeschützten Teil des Schulgebäudes“ gewesen, sprich die Patienten hätten in den Klassenzimmern gelegen. In einem Bericht von 1985 heißt es, dass zwar Räume und Materialien zur Verfügung stehen, dass „aber ohne längere Anlaufzeit kein geordneter Krankenhausbetrieb gestartet werden könnte“. Zudem bemerkten die damaligen Mitglieder des Kreiskrankenausschusses bei ihrer Besichtigungstour, dass „viele Geräte installiert, aber noch nicht funktionstüchtig sind“, was zu skeptischen Mienen der Ausschussmitglieder führte.

Im Januar 1985 musste der Pressesprecher des Landratsamtes bei einer Besichtigung konstatieren, dass in Sachen Notstandsplan „relativ wenig existiert“. Dass viele Verletzte im Ernstfall in Klassenräumen untergebracht werden müssten, überzeugte nicht so ganz: Schließlich wäre über der Erde bei einem atomaren Angriff alles verstrahlt. Ob man jemanden operieren solle, um ihn dann erneut der Strahlung auszusetzen – diese Frage stand im Raum. Ein Arzt, der bei der Besichtigung dabei war, fragte nach, ob es überhaupt sinnvoll sei, jemanden unten im Hilfskrankenhaus zu versorgen, wenn die Versorgung in normalen Krankenhäusern nicht mehr möglich ist. Der Pressesprecher hegte zwar die Hoffnung, dass nach der Behandlung die Strahlungsdosis über der Erde abgeklungen sei, doch der Arzt hielt diese Hoffnung für irreal.

Die Bedrohung durch einen atomaren Angriff nahm spätestens mit der deutschen Wiedervereinigung rapide ab und das Inventar des Neuffener Krankenhauses wurde schließlich 1999 in drei Lastzüge verladen und in den Kosovo gebracht. Im damaligen Jugoslawien wurde damals Krieg geführt. Die Utensilien halfen, die ärgste Not in einem Flüchtlingslager zu lindern.

Räume sollen Lagerfläche werden

Danach konnte die Schule Dinge einlagern. Der Gemeinderat in Neuffen beschloss, das Hilfskrankenhaus zur Lagerfläche zu machen. Auch die Möglichkeit, Probenräume für Bands zur Verfügung zu stellen, sollte geprüft werden. Jüngst wurde, aufgrund des Ukraine-Kriegs, wieder das Thema Schutzbauten auf die politische Agenda gespült. Was heißt das für die Pläne der Stadt? „Wir gehen jetzt mal in die Warteschleife“, sagt Bäcker. Keiner wisse, ob das Regierungspräsidium nicht doch auf den Gedanken komme, solche Anlagen wieder in Betrieb zu nehmen und die Entwidmung rückgängig zu machen. Die Anlage in Neuffen wurde 2021 aus der sogenannten Zivilschutzbindung entlassen.

Dass die Räume wieder reaktiviert werden, ist trotzdem schwer vorstellbar. Doch wer kann schon sagen, was die Zukunft bringt? Das wussten damals die Planer des Hilfskrankenhauses auch nicht, sonst hätten sie wohl nicht die Steine mit einer genauen Anleitung zum Einmauern versehen.