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Eine Idee, die Schule macht

Corona Über 300 Kinder mit Beeinträchtigungen im Landkreis Esslingen haben einen Schulbegleiter. In Pandemie-Zeiten lernen sie auch zu Hause. Von Julia Nemetschek-Renz

Schulbegleiter Stefan Pahlke geht jeden Tag nach dem Lernen mit Dennis raus in die Natur. Hier balancieren die beiden über einen
Schulbegleiter Stefan Pahlke geht jeden Tag nach dem Lernen mit Dennis raus in die Natur. Hier balancieren die beiden über einen Baumstamm am Fuße des Egelsbergs in Weilheim. Foto: Julia Nemetschek-Renz

Eigentlich fährt Schulbegleiter Stefan Pahlke jeden Morgen nach Esslingen zur Arbeit, ins Rohräckerzentrum - in eine Schule für Kinder mit Behinderung. Doch dann war auf einmal alles anders: Lockdown Mitte März, Schulschließung und Kurzarbeit für alle Schulbegleiter. Stefan Pahlke stand ohne Arbeit da und ein zehnjähriger Junge mit Autismus, er soll hier Dennis heißen, ohne Hilfe bei allen Aufgaben.

295 Schulbegleitungen im Landkreis Esslingen werden von der entsprechenden Fachstelle organisiert, einem Verbund aus sechs Trägern der Eingliederungs- und Jugendhilfe. Trägerin der Schulbegleitung von Dennis ist die Lebenshilfe Kirchheim. Nach einigen Absprachen war es möglich: Seit Mitte April kommt Schulbegleiter Stefan Pahlke jeden Schulvormittag zu Dennis nach Hause und unterrichtet in enger Abstimmung mit den Lehrern Deutsch und Mathe.

Daheim unterrichten ist ein Segen

Der Junge und der 60-Jährige sitzen am Esstisch nebeneinander. „Wir suchen ein Wort, das fängt mit ,Ta‘ an. Kennst du eines?“, fragt der Schulbegleiter. Dennis schaut nach oben, durch den Raum, blinzelt und wiegt sich hin und her und sagt etwas. „Genau, ‚Tag‘! Dennis hat‘s gefunden!“ Stefan Pahlke freut sich und lacht. Er versteht, was er sagen will. Doch dann radiert Dennis alles wieder aus. „Da war etwas nicht ganz perfekt für ihn, das kann er dann nicht so stehen lassen.“ Stefan Pahlke schaut den Jungen ruhig an. „Ich glaub‘, jetzt ist es ein bisschen viel, hm? Jetzt machen wir Pause, Zeit zu vespern“, beschließt er. Der Körper fordert einfach auch seine Aufmerksamkeit, erklärt Pahlke, und Dennis darf sich bewegen und ausruhen. „Dieser Unterricht zu Hause ist für Dennis ein wahrer Glücksfall, er hat riesige Lernfortschritte gemacht“, erzählt seine Mutter. Dennis wird auch jetzt, trotz Schulöffnungen, weiter zu Hause unterrichtet, weil er selbst keinerlei Abstände einhalten kann und sein kleiner Bruder Diabetes hat und zur Hoch-Risiko-Gruppe gehört.

„Wir verstehen uns ohne Worte“

Rund die Hälfte aller Schulbegleiter im Landkreis unterstützte die Eltern zu Hause während der Schulschließungen. „Ein wahrer Segen ist das gewesen“, erinnert sich Christine Salcone-Sommer, Mutter von Leni. Die Neunjährige hat eine Hörbehinderung und besucht die dritte Klasse einer Regel-Grundschule in Wendlingen. Seit Ende Juni ist die Schule wieder komplett offen und Schulbegleiterin Ulrike Schlegel mit Leni wieder im Unterricht. „Sie ist ein helles Köpfchen, wunderbar integriert, neugierig und aufgeschlossen“, erzählt ihre Schulbegleiter- in. Doch die Ruhe zu Hause sei zum Lernen schon toll gewesen. Carmen Schaaf ist die Schulbegleiterin von Nele-Sophie, einem 14-jährigen Mädchen mit Downsyndrom. Sie ist mit ihr im Wechsel drei Tage in der Woche in der Verbundschule in Dettingen und zwei Tage zu Hause. „Wir sind ein eingespieltes Team und verstehen uns ohne Worte“, erzählt Carmen Schaaf.

Sie fordern sich gegenseitig

Stefan Pahlke sitzt noch immer am Esstisch und wartet auf Dennis. Wartet darauf, dass der Zehnjährige zur Ruhe kommt. Druck bringe gar nichts, erzählt er. Und deshalb habe er gelernt, auch seine Stimme ruhig werden zu lassen, denn Stress äußere sich immer auch über die Stimme. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und Dennis ist die absolute Opposition dazu. Erfolg und Zeit spielen für ihn keine Rolle.“ Dennis taucht wieder auf und ruft aus dem Wintergarten: „Pahlke, Brezel, Nutella!“ Jetzt ist er bereit für das Essen. Danach gehen die beiden raus, so wie jeden Vormittag. Sie machen lange Spaziergänge am Fuße des Egelsbergs in Weilheim, wandern am Bach entlang, quer durch die Felder. „Dennis liebt es, raus in die Natur zu gehen“, erzählt Stefan Pahlke und klettert hinter Dennis auf einen liegenden Baumstamm, läuft ein paar Schritte und rudert dann mit den Armen. Gleichgewicht halten ist nicht leicht. Er lächelt. „Allein würde ich hier nie balancieren. Der Dennis fordert mich, und ich fordere ihn.“