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Fern von allem und jedem

Krise Schulen zu, Werkstätten geschlossen, Freizeitangebote abgesagt und das Kind zu Hause. Was für alle belastend ist, ist für Familien mit einem Kind mit Behinderung manchmal kaum zu schaffen. Von Julia Nemetschek-Renz

Ganz auf sich gestellt und doch noch näher zusammen: Familie Fekete-Nester beim täglichen Tischtennisturnier.Foto: Julia Nemetsc
Ganz auf sich gestellt und doch noch näher zusammen: Familie Fekete-Nester beim täglichen Tischtennisturnier. Foto: Julia Nemetschek-Renz

Wenn die Angst nicht wäre, könnte es ganz gemütlich sein. Aber Susanne Doster macht sich Sorgen. Ihre Tochter Sina Benner hat das Down-Syndrom und ist infektanfällig - bedeutet: Corona sollte sie überhaupt nicht bekommen. Und so ist die 23-jährige seit Mitte März den ganzen Tag zu Hause. Eigentlich arbeitet sie in den Karl-Schubert-Werkstätten in Bonlanden, doch die sind jetzt geschlossen. Zum Einkaufen geht ihre Mutter nur noch mit Mundschutz und Handschuhen, Sina wartet dann vor der Tür.

Wo man Familien mit Kindern heutzutage eh kaum noch draußen sieht, sind die Familien mit Kindern mit Behinderung komplett aus der Öffentlichkeit verschwunden. Denn viele Menschen mit Handicap gehören zur Hoch-Risiko-Gruppe. Klar, dass ihre Eltern sie schützen wollen. Doch was macht das mit den Familien? Diese Sorgen und Ängste und dazu die Isolation?

Sina Benner arbeitet jetzt zu Hause. Immer am Dienstag liefert die Werkstatt eine Palette kleiner Tannenbaumseifen, die sie dann in hübsche Geschenktütchen verpackt. Ihre Mutter Susanne Doster ist dankbar dafür: „Sina ist ihre Arbeit sehr wichtig. Und so bleibt ihre Tagesstruktur erhalten.“ Überhaupt würde es ihrer Tochter im Grunde gut gehen, weil die Welt um sie herum sei ja in Ordnung. Nur für ihre Mutter ist vieles nicht mehr, wie es war, denn sie kann ihre Tochter nie allein lassen. „Es kann sein, dass Sina dann den Herd anmacht oder nach draußen verschwindet“, erzählt ihre Mutter. Und weil die Werkstätten zu sind, hat Physiotherapeutin Susanne Doster jetzt erstmal zwei Monate unbezahlten Urlaub beantragt und die Yogakurse, die sie normalerweise in ihrem eigenen Haus gibt, abgesagt. Sie spielt viel mit ihrer Tochter, hört mit ihr Musik, singt und genießt den Garten. Ihre Hoffnung ist, dass bald ein Impfstoff gefunden wird. Denn eigentlich seien auch Oma und Tante für Sina da. „Doch die fallen in diesen Corona-Zeiten aus“, erzählt Susanne Doster. „Und wenn mein Mann und ich gleichzeitig erkranken würden, wer kümmert sich dann?“

Man wurstelt sich durch

„Ich kann mir gar nichts wünschen, ich weiß nicht, wie es weiter geht“, sagt die Pflegemutter eines 13-jährigen Pflegekindes, die anonym bleiben möchte. Ihr Kind ist mehrfach schwerstbehindert und hat einen angeborenen Immundefekt. Es darf Corona gar nicht bekommen und würde wahrscheinlich auch eine Impfung nicht vertragen. Weil das Kind rund um die Uhr Betreuung braucht, arbeitet die Mutter nicht mehr, sie ist selbständig. Die finanziellen Einbußen muss sie hinnehmen. Doch viel schlimmer für sie ist, dass jetzt alle Therapie-Termine ausfallen. Eigentlich sollte ihr Kind neu medikamentös eingestellt werden, aber das sonderpädagogische Beratungszentrum hat die Termine abgesagt. Und so hat die Mutter jetzt nur noch ein Medikament für den Notfall. Auch vor Corona hätten sie nicht viele Kontakte gehabt, jetzt aber würde die Last der Betreuung komplett auf ihren Schultern liegen, erzählt sie. Weil ihr Kind sehr schlecht schläft, muss sie auch nachts oft raus und schafft den Tag manchmal kaum. Und normaler Alltag ist noch lange nicht in Sicht. Denn selbst wenn die Schulen aufmachen sollten, ihr Kind kann sie nicht mit anderen Menschen zusammen lassen, solange nicht die meisten Menschen immun oder geimpft sind. „Ich wurschtel mich irgendwie durch, aber es ärgert mich, dass wir Familien, die Hilfe brauchen, komplett unter den Tisch fallen.“

Ganz anders bei Familie Fekete-Nester. Sie haben drei Kinder: Der Älteste, der 17-jährige Sebastian, hat das Down-Syndrom. Sie erleben die Corona-Zeit als eine Zeit, die sie noch näher zusammenbringt. Zwar hielten sie sich auch fern von allen, erzählt der Vater Ulrich Fekete-Nester, aber die gemeinsame Zeit jetzt sei schön. „Jeden Tag machen wir ein Tischtennisturnier und schauen abends gemütlich einen Film. Ich kann zum Glück zu Hause arbeiten und wir haben keine finanziellen Sorgen.“ Doch dafür, dass es allen so gut geht, gäbe es noch einen Grund, sagt die Mutter Catriona Fekete-Nester, nämlich Sebastian selbst. „Er ist durchgehend positiv und glücklich und streitet sich nicht gern. Er ist sehr stabilisierend für unsere Familie.“