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Gemeinden suchen Alleskönner

Kommunalpolitik Warum immer mehr Kommunen Mühe haben, geeignete Kandidaten für eine Bürgermeisterwahl zu finden. Bei genauerem Hinsehen stimmt die Work-Life-Balance einfach nicht. Von Barbara Gosson

Es sieht düster aus: Immer weniger wollen den Chefsessel in den Rathäusern.Symbolfoto: Deniz Calagan
Es sieht düster aus: Immer weniger wollen den Chefsessel in den Rathäusern. Symbolfoto: Deniz Calagan

In diesem Jahr bekommt nicht nur Nürtingen einen neuen Oberbürgermeister. Auch in anderen Gemeinden im Kreis wird gewählt. Im Idealfall bewerben sich mehrere fähige Leute. Doch es wird immer schwieriger, geeignete Bewerber zu finden.

Der Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling, früher Professor in Tübingen, kennt die baden-württembergische Kommunalpolitik wie kein Zweiter. Er hat Erklärungen dafür, warum immer weniger Menschen bereit sind, sich als Oberhaupt einer Kommune zu bewerben.

Am Geld liegt es nicht, sagt Wehling. Zum Grundgehalt kommen noch 13 Prozent Aufwandsentschädigung, steuerfrei. „Das soll die wahre Gehaltssituation verschleiern“, kommentiert Wehling. Zur dritten Amtsperiode gebe es nochmals einen Aufschlag. Trotzdem hören viele nach der zweiten Amtsperiode auf. Ab da sind die Altersbezüge gesichert.

Das Amt fordert einen hohen sozialen Preis, denn der Bürgermeister ist, auch wenn er Brötchen kauft, der Bürgermeister und steht ständig unter Beobachtung, ist immer auf dem Präsentierteller. Freizeit und Privatsphäre sind stark eingeschränkt. Das Privatleben leidet unter den vielen Terminen. Sogar im Urlaub werden Amtsinhaber angesprochen. Manchmal haben es auch die Kinder schwer. Wehling benutzt den Begriff „moralische Kosten“. Davor schrecken viele zurück.

Dazu kommt die Arbeitsbelastung von bis zu 80 Stunden pro Woche. „Da stimmt die Work-­Life-Balance nicht mehr.“ Vor allem Frauen sind nicht bereit, diesen Preis zu bezahlen. Darum bleiben viele, die qualifiziert wären, ganz bewusst in der zweiten Reihe, in der Kämmerei oder im Hauptamt, wo es weniger Schwierigkeiten bereitet, eine Weile in Teilzeit zu gehen. Im Jahr 2016 waren laut Landeszentrale für politische Bildung von den 1 100 hauptamtlichen Bürgermeistern im Land nur 65 weiblich.

Wehling hat auch beobachtet, dass die Bürger genau schauen, wofür Geld ausgegeben wird. Dann bekommt der Schultes Gegenwind statt Erfolgserlebnisse. Außerdem ziehen sich Projekte oft lange hin wegen Vorschriften wie Denkmal- und Brandschutz. Deshalb sei eine Amtsperiode von acht Jahren durchaus angemessen, wenn es darum gehe, einen langen Atem zu haben.

Wehling ist der Meinung, dass ein Bürgermeister eine Verwaltungshochschule absolviert haben sollte, schon alleine, um ein gutes Netzwerk bis hinein in die Ministerien zu haben. Das ist wichtig, wenn es darum geht, Zuschüsse zu bekommen. Aus den Verwaltungshochschulen in Kehl und Ludwigsburg erwächst also eine regelrechte Verwaltungskaste.

„Die Bürger wollen das auch“, weiß Wehling aus der Beobachtung vieler Wahlen. Tritt ein Kandidat mit Verwaltungserfahrung gegen einen ohne an, gewinnt in der Regel der mit Verwaltungserfahrung.

Ein weiterer Faktor ist die Distanz zu Parteien. Über die Hälfte der Bürgermeister in Baden-Württemberg sind parteilos. Außerdem, eine weitere Besonderheit im Ländle, soll der Bewerber nicht aus der Gemeinde kommen. „Die Bürger erwarten nicht nur Überparteilichkeit, sondern auch einen Neuanfang. Der Bürgermeister sollte in der Gemeinde vorher keine Feinde und keine Freunde haben.“

Ohne Rückenwind aus einer Partei geht es laut Wehling vor allem in den baden-württembergischen Städten nicht. Eine Kandidatur ist zwar steuerlich absetzbar, aber teuer, außerdem braucht der Kandidat Leute, die Termine machen und plakatieren.

Für Wehling ist klar, dass das Bild des Amtes sich ändern muss, um wieder mehr qualifizierte Kandidaten dafür zu begeistern. Der omnipräsente Macher ist von gestern. Die Bürger müssten ihre Ansprüche reduzieren und damit leben, dass der Bürgermeister nicht zu jeder Hauptversammlung erscheint, ein Mensch ist, der Feierabend und Wochenende wahrnimmt.

Außerdem fordert er vom Staat, die mittlerweile überbordende Bürokratie einzudämmen. Sonst bestehe die Gefahr, dass irgendwo mangels geeigneter Bewerber irgendwelche Spaßkandidaten ohne jede Kenntnis einer Verwaltung in Amt und Würden gelangen und acht Jahre dort bleiben. Denn einen Bürgermeister vor der nächsten Wahl loszuwerden - auch so ein Problem -ist praktisch unmöglich.

Was bekommt der „Schultes“

Symbolfoto: Irene Strifler
Symbolfoto: Irene Strifler

Ein hauptamtlicher Bürgermeister verdient in Baden-Württemberg laut Landesbesoldungsordnung in Gemeinden bis zu 1 000 Einwohner A12 in der ersten und A13 in der zweiten Amtszeit. Das entspricht auf Stufe 7 einem monatlichen Grundgehalt von 4 142 beziehungsweise 4 621 Euro brutto. Bis zu 2000 Einwohner: A14/A15 (4 999/5 490 Euro) Bis zu 5 000 Einwohner: A15/A16 (5 490/6 071 Euro) Bis zu 10 000 Einwohner: A16/B2 (6 071/7 618 Euro) Bis zu 15 000 Einwohner: B2/B3 (7 618/8 066 Euro) Bis zu 20 000 Einwohner: B3/B4 (8 066/8 536 Euro) Bis zu 30 000 Einwohner: B4/B5 (8 536/9 076 Euro) Bis zu 50 000 Einwohner: B6/B7 (9 585/10 080 Euro) Bis zu 100 000 Einwohner: B7/B8 (10 080/10 596 Euro) Bis zu 200 000 Einwohner: B9/B10 (11 237/13 228 Euro) Bis zu 500 000 Einwohner: B10/B11 (13 228 /13 741 Euro) Über 500 000 Einwohner: B11 (13 741 Euro)