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Göppinger Visionen und Nürtinger Protest: Der Kreis Esslingen feiert den 50sten

Jubiläumsvortrag Der Landkreis Esslingen ist 50 Jahre alt, doch das ist keine Selbstverständlichkeit. Bei der Kreisreform hätte alles ganz anders kommen können. Von Peter Dietrich

Unter den Zuhörern im gut gefüllten Kronensaal der Kreissparkasse Esslingen, die den beiden Kreisarchivaren Manfred Waßner und Stefan Lang lauschten, waren viele Zeitzeugen. Sie kennen den politischen Kampf und die harten Diskussionen rund um die Kreisreform von 1973 noch aus eigener Erinnerung.

Den Einstieg in die Zeit der Geburtswehen und Grabenkämpfe der neuen Landkreise lieferte der Esslinger Landrat Heinz Eininger. Er ist in Großbettlingen aufgewachsen, ging in Nürtingen zur Schule und erinnert sich noch gut an die Autoaufkleber „NT muss bleiben“. Er erläuterte auch, warum der Landkreis Esslingen und die Kreissparkasse Esslingen in diesem Jahr gemeinsam feiern: Der Landkreis wird 50, die Kreissparkasse 175 Jahre alt.

Diskussionen ab 1954

Ernst Schaude, Nürtinger Landrat von 1946 bis 1972, war ein Freund langfristiger Planungen. Er erkannte früh, was wohl kommen würde, denn schon im Landesverwaltungsgesetz von 1956 stand, dass die Kreisgrenzen neu zu ordnen seien. Über den Landkreis Nürtingen wurde schon 1954 diskutiert, lag er doch räumlich neben dem Wackelkandidaten Münsingen. Ein Jahr später stand die Frage im Raum: Soll Esslingen eine kreisfreie Stadt werden? Im selben Jahr kam die Idee auf, das Land in 20 Großkreise und 10 Stadtkreise aufzuteilen. Doch noch schwelte der Konflikt zwischen den Badenern und Württembergern um den neuen Südweststaat, es gab daher schon genug Ärger, keine Landesregierung wollte an die Kreisreform ran. Das änderte sich 1968, als eine Große Koalition aus CDU und SPD regierte. Ministerpräsident Hans Filbinger sah in der Kreisreform einen „Vollzug von Notwendigkeiten“. Ein Denkmodell vom Dezember 1969 sah 25 Land- und 5 Stadtkreise vor, ein späteres CDU-Modell 38 plus 8. Auch an eine Direktwahl der Landräte wurde gedacht.

Nürtingen macht mobil

Gegen die Pläne der Landesregierung, die Kreise Nürtingen und Esslingen zu fusionieren, machte Nürtingen mobil. Der Titel einer neuen Broschüre, „Der Landkreis Nürtingen gestern, heute und morgen“, war eine bewusste Provokation. Nürtingen und Esslingen beauftragten jeweils Gutachter, die die eigene Sicht mit Zahlen unterfüttern sollten. Doch die Politik fand in der Landeshauptstadt statt. Immerhin galt der Kreis Nürtingen dort als existenzfähig – jedenfalls gerade noch so.

Die Gesamtzahl der neuen Landkreise hatte das Land auf 35 festgelegt, Esslingen und Nürtingen waren darin jeweils separat enthalten. Doch dann fiel die Entscheidung für den Hohenlohekreis. Dieser kleine Kreis mit nur 85 000 Einwohnern war aber die Nummer 36, also musste irgendwo ein anderer Kreis weg. „So kamen Esslingen und Nürtingen zusammen“, sagte Waßner. Nach Nürtinger Vorstellungen sollte Esslingen kreisfreie Stadt und Nürtingen Kreissitz werden. Doch der Esslinger Gemeinderat, der Esslinger Kreistag und die Politprominenz der Stadt waren dagegen. Sie fürchteten, die Stadt würde durch die Ausweisung in den Schatten von Stuttgart geraten, womöglich sogar von Stuttgart eingemeindet werden. Eine Horrorvision!

Die ersten beiden Lesungen des Gesetzes im Landtag sahen noch Nürtingen als Kreissitz vor. Es gab eine Demo auf dem Esslinger Marktplatz, die lokalen Politiker zogen im Landtag alle Fäden. Werner Weinmann, seit 1968 für die SPD im Landtag, argumentierte, täglich kämen 3000 Pendler aus Nürtingen nach Esslingen, aber nur 70 Beschäftigte aus dem Landkreis Esslingen würden im Landkreis Nürtingen arbeiten, davon 22 in der Stadt Nürtingen. Die vorgetragenen Argumente, auch die von Walter Hirrlinger (SPD), zogen: Bei der namentlichen Abstimmung im Landtag stimmten 62 Abgeordnete für Esslingen als Kreissitz, 51 für Nürtingen.

130 Flaschen Hochgewächs

Für Richard Schall, Landrat des bisherigen Landkreises Esslingen, war das ein Erfolg. Zum Dank verschickte er an die Abgeordneten ein Buch über den Landkreis und 130 Flaschen Kessler Hochgewächs. Nürtingen hingegen sammelte fleißig Unterschriften für die Volksabstimmung über die Auflösung des Landtags und setzte auf eine Normenkontrollklage gegen die gesamte Kreisreform, ohne Erfolg. Der Nürtinger Landrat Ernst Schaude bekam als Abschiedsgeschenk einen Farbfernseher, mit dem Hinweis, damit könne er „in aller Ruhe in die Röhre schauen“.

Nicht der bisherige, vorläufige Esslinger Landrat Richard Schall, sondern der von der Vorgeschichte unbelastete Hans Peter Braun (CDU) wurde im Herbst 1973 zum neuen Landrat gewählt. Er blieb 27 Jahre, sein Nachfolger Heinz Eininger bisher 23 Jahre – so hat der neue Kreis bisher nur zwei neue Landräte erlebt. Der Erfolg des neuen Kreises, trotz aller Geburtswehen, lag laut Waßner auch daran, dass die geplanten Infrastrukturmaßnahmen in den beiden Altkreisen gleichmäßig weiterverfolgt wurden und Nürtingen und Kirchheim Außenstellen der Kreisverwaltung blieben. Heute stehe der Landkreis stärker da als je zuvor, und unheilvolle Menetekel, so wie 1956, gebe es keine.

 

„Landkreis Teck-Staufen“ galt als „beachtlicher Vorschlag“

Der Landkreis Göppingen mit seinen rund 220 000 Einwohnern sollte in frühen Planungen erhalten bleiben, aber Aichelberg und Schlierbach an Nürtingen abgeben und im Gegenzug jeweils mehrere kleine Gemeinden von Schwäbisch Gmünd und Ulm erhalten. Göppinger Träume hingegen sahen die Stadt als Oberzentrum, das von den Städten Schwäbisch Gmünd, Schorndorf, Kirchheim und Geislingen umgeben wird. Daraus wurde genauso wenig wie aus den Nachbarplänen für einen Remskreis, der gerne den Kreis Göppingen angeknabbert hätte.

Die Idee eines Hohenstaufenkreises mit Göppingen als Oberzentrum veröffentlichte der Göppinger Bürgermeister Herbert König am 29. April 1970 ohne Absprache. Optional sah er auch einen Landkreis Teck-Staufen mit 376 000 Einwohnern, zu dem auch Kirchheim, Weilheim und einige Albrandgemeinden gehört hätten. Seine Ideen wurden in der Presse gut aufgenommen, das Innenministerium sprach von einem „beachtlichen Vorschlag“. Den Göppinger Landrat Paul Goes ärgerte Königs Alleingang jedoch gewaltig, die beiden fetzten sich.

Für die Vision eines Hohenstaufenkreises wurde weiter hart gekämpft. Doch die Gmünder waren sich beim Todesurteil für ihren Landkreis noch nicht sicher, verhandelten auch mit Aalen. Die Forderung aus Schwäbisch Gmünd und von der Stadt Heidenheim, der Landkreis Göppingen solle vom Mittleren Neckar in die Ostalbregion wechseln, war dort völlig inakzeptabel. Am 18. März 1971 begrub das Land alle Hoffnungen auf den Hohenstaufenkreis: Zwischen Göppingen und Schwäbisch Gmünd gebe es zu wenige „sozioökonomische Verflechtungen“, Schwäbisch Gmünd komme zu Aalen. Das Gmünder Landratsamt ließ seine Fahne auf Halbmast wehen.

Auch die Göppinger mussten einstecken: Wißgoldingen blieb letztlich doch beim Ostalbkreis, die Bemühungen um Amstetten waren ebenfalls vergeblich. Am westlichen Ende des Landkreises schielte Bürgermeister König aufs Plochinger Knie. Als klar war, dass doch Esslingen der Sitz des neuen Nachbarlandkreises wird, und nicht Nürtingen, war dieser Gedanke ebenfalls hinfällig. Die Bevölkerung habe die ganzen Diskussionen überwiegend gelassen genommen, sagte Lang. pd