Weilheim · Lenningen · Umland

„Heimat kann überall sein“

Fremde Sprachen waren bei der 16. Frauen-Lesenacht in der Kirchheimer Stadtbücherei zu hören

Temperamentvoll ging es mitunter bei der Kirchheimer Frauen-Lesenacht zu. Foto: Leonie Seng
Temperamentvoll ging es mitunter bei der Kirchheimer Frauen-Lesenacht zu. Foto: Leonie Seng

Kirchheim. Vier Frauen, vier Leseecken, vier Länder – mit viel Offenheit, Interesse und Feinfühligkeit tauchten die Besucherinnen der

Frauen-Lesenacht in der Kirchheimer Stadtbücherei in die literarischen, persönlichen und kulturellen Welten von vier Frauen ein, die teilweise aus ihren Ursprungsländern geflohen sind.

Wie eine Märchenerzählerin sitzt Carolina Lizarazo-Bross, leicht erhöht, in der Kinderecke der Kirchheimer Stadtbücherei. Es ist Samstagabend, statt Kinder hat sich eine Schar Frauen um die Kolumbianerin versammelt. Lizarazo-Bross hat sich einen breiten, grünen Schal um die Schultern gelegt, im Hintergrund hängt ein bunter Wandteppich. Die Lesebrille auf der Nasenspitze liest Lizarazo-Bross aus dem Roman „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Gárcia Márquez. Sie liest auf Spanisch, und obwohl keine der Zuhörerinnen die Sprache versteht, wie sich danach herausstellt, hören alle aufmerksam und konzentriert zu – angetan von dem angenehm murmelnden Wortfluss, der aus Lizarazo-Bross‘ Mund strömt.

Lizarazo-Bross arbeitet inzwischen als Spanisch-Dozentin an der Universität Stuttgart. Vor 15 Jahren kam sie mit ihrem Mann nach Deutschland, weil ihnen Kolumbien aufgrund der Konflikte zwischen Guerillas, Paramilitär und Armee als Wohnort zu unsicher war. „Ich bin froh, dass ich hier bin, aber ich vermisse mein Land“, sagt die Kolumbianerin. Als sie sich vor Kurzem dafür entschied, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, dachte sie zunächst: „Was für ein Schritt! Aber dann merkte ich: Papier ist nichts. Deutschland ist jetzt auch meine Heimat. Heimat kann überall sein, wenn man einmal weggegangen ist.“

Eine Leseecke weiter sitzt Gil Savannah Neyou tief über ihr Buch gebeugt und scheint fast darin zu verschwinden, während sie vorliest. „Temps de chien“, auf Deutsch „Hundezeiten“. Geschrieben hat es Patrice Nganang, der wie Neyou aus Kamerun kommt. Die 33-Jährige liest auf Französisch, mit afrikanischem Akzent. Manchmal hebt sie die Stimme so stark, das es so klingt, als würde sie hicksen. Die Frauen, die im Kreis um Neyou sitzen, hören gespannt zu – vor allem auch dann, als Anja Jenal vom Pädagoginnentreff die deutsche Zusammenfassung des Buchs vorliest.

Schnell, aber behutsam tauchen die Zuhörerinnen mit Fragen, Nicken, verdutztem Kopfschütteln erst in die Kultur Kameruns und dann in Neyous Welt ein. 2007 floh die junge Frau mit einem Pfarrer nach Deutschland. Wohin die Reise ging, wusste sie unterwegs nicht. In Kamerun hatte sie sich während ihres Marketing-Studiums, zu dem der Vater sie gezwungen hatte, gegen die Beschneidung von Frauen eingesetzt. Sie bekam Briefe von der Regierung, dies zu unterlassen. Eine von Neyous Freundinnen wurde umgebracht, weil sie die Beschneidung ihrer fünfjährigen Tochter verhindern wollte. Neyou schaffte den Absprung. In Deutschland wartete sie fünf Jahre lang auf ihre Anerkennung. Während dieser Zeit konnte sie keine Sprachkurse belegen, geschweige denn arbeiten, allenfalls essen und schlafen. Erst zwei Jahre nach ihrer Flucht gelang es der Kamerunerin, ihre Mutter in der Heimat zu kontaktieren – und das, obwohl die Mutter es ist, die Neyou hier am meisten vermisst.

„Die Literatur ist manchmal nur der Einstieg für kulturelle und persönliche Themen“, erklärt Sabine Stoll, Mitorganisatorin der Lesenacht. Sie freut sich, dass sowohl Stammgäste als auch neue Zuhörerinnen anlockt werden, in diesem Jahr auch viele junge. Außerdem passe die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen gut in die derzeitige gesellschaftliche Situation: „Hier finden auch Frauen einen Platz, die inzwischen sehr gut integriert sind.“ Dies ist auch bei den anderen beiden Leserinnen der Fall. Die Brasilianerin Kelly Colen, Mutter von vier Kindern, heizt den Zuhörerinnen mit Texten über die brasilianischen Tänze Samba und Forró ein. Sozialer Kontakt ist ihr besonders wichtig, darum freut sie sich, dabei zu sein. Samira Durmus, 28 Jahre alt, arbeitet als Dolmetscherin für kurdische Frauen. Sie ist beeindruckt vom Lebenswillen der Kurdinnen, die durch IS-Angriffe im Irak teilweise ihre kompletten Familien verloren haben und sich nun in Deutschland zurechtfinden müssen. Diesen Frauen die deutsche Kultur beizubringen, sei teilweise sehr schwer.